Friedrich Nietzsche

Friedrich Wilhelm Nietzsche
* 15. Oktober 1844 in Röcken;
† 25. August 1900 in Weimar
war ein deutscher Philosoph, Dichter und Philologe. Seine Philosophie befasste sich hauptsächlich mit Themen wie Moral, Kunst, Religion und Kultur.
Zahllose Philosophen und Künstler wurden von Nietzsches Ideen wesentlich beeinflusst.

Nach dem Tod des Vaters und der Übersiedlung der Familie nach Naumburg besuchte Nietzsche seit 1854 das Domgymnasium. 1858 erhielt er eine Freistelle in der Landesschule Pforta (Schulpforta), an der er die für seinen späteren Berufsweg entscheidende strenge, altphilologisch akzentuierte Ausbildung erhielt. Zwei damals entstandene Abhandlungen, „Fatum und Geschichte“ und „Willensfreiheit und Fatum“, berühren bereits wesentliche Themen seiner nach 1876 entwickelten Philosophie. Nach dem Abitur 1864 immatrikulierte sich Nietzsche in Bonn an der theologischen Fakultät und wechselte im folgenden Semester zur klassischen Philologie. Im Herbst 1865 setzte er das Studium in Leipzig fort, u. a. weil sein Lehrer Friedrich Ritschl (1806–76) dorthin berufen worden war. Zu dieser Zeit entdeckte Nietzsche Schopenhauers Schrift „Die Welt als Wille und Vorstellung“, die auf seine Entwicklung wesentlichen Einfluss hatte. Getragen von der Leidenschaft Schopenhauers, widmete er sich dem Studium der Philologie. Nach einem Militärdienst bis März 1868 plante Nietzsche zunächst eine Dissertation über Kant und ein naturwissenschaftliches Studium in Paris. Auf Empfehlung Ritschls wurde Nietzsche im Februar 1869 als ao. Professor auf den altphilologischen Lehrstuhl in Basel berufen (o. Prof. April 1870), im März aufgrund seiner bisherigen Arbeiten in Leipzig promoviert. Einem Besuch bei Richard Wagner, den er im Herbst 1868 kennengelernt hatte, in Tribschen bei Luzern im Mai 1869 folgten viele weitere. Im August 1870 ließ Nietzsche sich für eine freiwillige Teilnahme als Sanitäter im Krieg gegen Frankreich beurlauben. – Nietzsche verfolgte in Basel ein kulturpädagogisches Programm in kosmopolitischer Absicht, das den kulturfeindlichen Tendenzen der modernen „Civilisation“ entgegenwirken sollte. Er sah sich dabei einig mit Jacob Burckhardt, vor allem aber mit Wagner, der Nietzsche für die öffentliche Durchsetzung seines Kunstideals zu gewinnen hoffte. Dieser Erwartung entsprach Nietzsche zunächst mit seiner Schrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“ (Anfang 1872). Ausgelöst durch innere Spannungen angesichts einer zunehmenden Distanz zu Wagners künstlerischen Bestrebungen und der Unvereinbarkeit seiner Lehrverpflichtungen mit der Entwicklung seiner philosophischen Interessen, verschlechterte sich Nietzsches Gesundheitszustand seit 1873 so gravierend (u. a. migräneähnliche Kopfschmerzen, Augenschwäche), dass ihm die Basler Erziehungsbehörde 1876 einen einjährigen Urlaub gewährte. Die Zeit bis Mai 1877 verbrachte er größtenteils in Sorrent mit Malwida v. Meysenbug (1816–1903) und dem Moralpsychologen Paul Rée (1849–1901). Hier traf Nietzsche auch ein letztes Mal Ende Okt. 1876 mit Wagner zusammen. 1877 entstand der größte Teil des Aphorismenwerks „Menschliches, Allzumenschliches, Ein Buch für freie Geister“ (1878), das eine deutliche Absage an Wagners nationalistisches Kunstideal enthielt. Den grundsätzlichen Unterschied ihrer Kunst- und Kulturauffassungen hat Nietzsche später in der Polemik „Der Fall Wagner, Ein Musikantenproblem“ (1888) deutlich gemacht. Im Mai 1879 bat Nietzsche, dessen Gesundheitszustand sich rapide verschlechterte, um Entlassung aus dem Basler Amt, die ihm unter Zusicherung einer jährlichen Pension für sechs Jahre (verlängert 1885) gewährt wurde.

Die folgenden Jahre verbrachte Nietzsche als „fugitivus errans“ mit beschränkten Mitteln an wechselnden Orten – den Winter über bevorzugt in Italien (v. a. Genua, Rapallo, Nizza, Turin, zeitweise Venedig, aber auch Riva, Recoaro, Messina), im Sommer seit 1881 in Sils-Maria (Oberengadin). Eine einschneidende Zäsur in diesen Jahren bildete die Begegnung mit Lou v. Salomé (1861–1937). In ihrem Gedicht „Gebet an das Leben“, das er im Sommer desselben Jahres als „Hymnus an das Leben“ vertonte, meinte er, seine dionysische Weltsicht wiederzuerkennen, und hoffte vergeblich, eine seelenverwandte Partnerin gefunden zu haben. Mit Freunden wie Paul Deussen (1845–1919), Carl v. Gersdorff (1844–1904), Heinrich Köselitz (1854–1918), Franz Overbeck (1837–1905) und Erwin Rohde (1845–98) hielt er überwiegend brieflich Kontakt.

Am 3.1.1889 wurde bei Nietzsche in Turin eine organische Gehirnerkrankung manifest, die eine fortschreitende Zerstörung des Bewusstseins zur Folge hatte. Nachdem er Anfang Januar sog. „Wahnsinnszettel“ an Burckhardt und Overbeck geschickt hatte, holte letzterer ihn von Turin nach Basel zur Untersuchung in der Nervenklinik. Von hier brachte ihn die Mutter nach Jena, wo er bis Februar 1890 in der psychiatrischen Universitätsklinik beobachtet, danach von ihr bis Mai betreut und dann nach Naumburg zurückgebracht wurde. 1894 gründete die Schwester im Haus der Mutter ohne deren Zustimmung ein Nietzsche-Archiv. Sie übersiedelte, nachdem sie sich 1895 die Rechte am Nachlass hatte übertragen lassen, 1896 nach Weimar. Nach dem Tod der Mutter 1897 übernahm sie Nietzsche ins Archiv, wo er, als Kultobjekt aufbewahrt, weiterlebte. Die Ursachen von Nietzsches Erkrankung sind ungeklärt geblieben; sie ist möglicherweise durch eine Syphilis bedingt.

Hauptwerke. – In seiner ersten kulturphilosophischen Veröffentlichung, der „Geburt der Tragödie“ (1872), entwickelt Nietzsche anhand einer Darstellung der attischen Tragödie und einer Unterscheidung der Phänomene des Apollinischen und des Dionysischen eine Metaphysik der Kunst, die beide Phänomene vereint und sich in der Aussage verdichtet: „daß nur als ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerechtfertigt erscheint“. Bereits hierin drückt sich ein Abstand Nietzsches zu Schopenhauers Negation des Willens in der ästhetischen Betrachtung aus. Der starken öffentlichen Beachtung, die diese Schrift fand, stand die seiner ersten „Unzeitgemäßen Betrachtung“: „David Strauß, der Bekenner und Schriftsteller“ (1873) nicht nach. In polemischem Stil beschreibt Nietzsche hier am Beispiel eines „Bildungsphilisters“ den Zustand der deutschen Bildung. Mit der zweiten Betrachtung, „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ (1874), wendet sich Nietzsche mittels der Unterscheidung einer „monumentalischen“, einer „antiquarischen“ und einer „kritischen Historie“ gegen die „Hypertrophie“ der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft und macht zugleich deutlich, dass eine Rückkehr zum Mythos keinen Ausweg aus dieser Situation bietet. Die dritte dieser Schriften, „Schopenhauer als Erzieher“ (1874), sucht zu zeigen, wie ein an unbedingter Wahrhaftigkeit orientierter Denker „unzeitgemäß“ und dadurch zum Muster eines echten Philosophen wird, der seine Wahrheit l e b t. In „Richard Wagner in Bayreuth“ (Anfang 1874 begonnen, beendet Juli 1876) konfrontiert er Wagners ursprünglich revolutionäre, kosmopolitische Ideale indirekt mit der das zeitgenössische Kulturverständnis sanktionierenden Realität der Festspiele in Bayreuth.

Das Werk „Menschliches, Allzumenschliches, Ein Buch für freie Geister“ (1878-79; MA) ist die Fortsetzung der Arbeit an einer zunächst noch als „Unzeitgemäße Betrachtung“ unter dem Titel „Die Pflugschar“ geplanten Aphorismenschrift, die er im Juni 1876 begonnen hatte. Es handelt sich um eine Sammlung von in der Form durch die franz. Moralisten angeregten Aphorismen, die ihren besonderen Inhalt jeweils am Anfang benennen. Sie folgen dem Prinzip des „prodesse et delectare“ und greifen, um neun „Hauptstücke“ gruppiert, in loser Folge alle bisherigen kulturphilosophischen Themen auf. Ihre innere Einheit besteht in dem zugrundegelegten Bewusstsein eines fiktiven Subjekts, des „freien Geistes“, der allem „Idealismus“ abgesagt hat. Auf der Grundlage der Einsicht, dass „Überzeugungen … gefährlichere Feinde der Wahrheit, als Lügen“ sind (MA 483), unterzieht Nietzsche tradierte metaphysische Vorstellungen und Ideale einer psychologischen Analyse, die im Versuch der „Umkehrung gewohnter Wertschätzungen und geschätzter Gewohnheiten“ (Vorrede I, 1) ihren methodischen Ausgangspunkt hat. Ihrer Erscheinungsform und Intention nach schließen die beiden folgenden Werke unmittelbar an. Während die in fünf „Bücher“ gegliederte „Morgenröte“ (1881; M) unter dem Titel „passio nova“ konzipiert und mit dem Titel „Die Pflugschar“ als Manuskript abgeschlossen wurde, war „Die fröhliche Wissenschaft“ (1882, erweitert ²1887; FW) zunächst als Fortsetzung der „Morgenröte“ geplant. Die aphoristische Form war nicht nur das adäquate Mittel für einen Autor, der seine Gedanken auf Wanderungen fasste und auf einen ökonomischen Umgang mit seinem Augenlicht angewiesen war, sie war vor allem der angemessene Ausdruck einer Philosophie, die sich aller systematisierenden Ableitung aus dem Begriff versagt, weil sie die Grenzenlosigkeit der Erkenntnis unterstellt und davon ausgeht, „dass das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe“ (FW 324). Ging es Nietzsche zunächst um die Rückführung metaphysischer Vorurteile auf „allzumenschliche“ Gründe, so hier überwiegend um eine Kritik der Moral im Blick auf ihre historische Entstehung. Das Denken soll nun, statt im Dienst der Moral deren Abkunft aus der Vernunft glaubhaft zu machen, deren Herkommen aus der „Unvernunft“ deutlich werden lassen. In „Jenseits von Gut und Böse“ (1886; JGB) und den Abhandlungen „Zur Genealogie der Moral“ (1887; GM)|hat Nietzsche die historische Kritik der Moral weiter ausgeführt. Die Besonderheit der „Fröhlichen Wissenschaft“ im Zusammenhang seiner Werke liegt darin, dass bei der Darstellung traditioneller Metaphysik und Moral der polemische Ton fehlt, und darin, dass sie mit ihrem fünften Buch der Entstehungszeit nach das Werk „Also sprach Zarathustra“ (T. 1-4, 1883-1887) umgreift. Vor allem aber steht sie in inhaltlichem Bezug zu diesem Werk: Durch die Figur des „tollen Menschen“ (FW 125), der die Tötung Gottes durch den Menschen als epochales Ereignis begreift, durch den letzten Aphorismus des 4. Buchs, der mit der 1. Vorrede Zarathustras fast gleichlautet, und vor allem durch die Darstellung des zentralen, aus aktuellen wissenschaftlichen Quellen gespeisten Gedankens des „Zarathustra“, der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“ (FW 341), den Nietzsche im August 1881 als für ihn entscheidende Erfahrung festgehalten hat. Für Nietzsche erlangt dieser hypothetische Gedanke außerordentliches Gewicht als Gegensatz zu theistischen Vorstellungen, die einen willkürlichen Gott unterstellen. In „Also sprach Zarathustra“ rückt ein weiterer Gedanke in den Mittelpunkt: Zarathustras Lehre vom „Übermenschen“; dieser ist keineswegs gedacht als „ästhetisierender Athlet“ oder gar „Prototyp einer, Herrenrasse’“, er bezeichnet vielmehr, wie sein Gegenpol, der „letzte Mensch“, eine Grenze „am Horizont einer antimetaphysischen, antipessimistischen Vision der Welt“ (Montinari). Daneben tritt im „Zarathustra“ ein dritter Gedanke, der in den Überlegungen zu JGB und zur GM, vor allem aber in den Vorarbeiten zu den sog. Spätwerken des Herbstes 1888 „Götzendämmerung“ (1889) und „Der Antichrist“ (1895) eine beherrschende Stellung gewinnt und mit den beiden anderen den „konstruktiven Teil seiner Philosophie“ (Montinari) darstellt: die „Theorie eines in allem Geschehen sich abspielenden Macht-Willens “ (GM II, 12). Nietzsche bestimmt diesen Willen als das Wesen des Lebens selbst, als „das, was sich immer selbst überwinden muß“ (II, Von der Selbstüberwindung). Er ist nicht als metaphysisches Prinzip neben und hinter aller Erscheinung misszuverstehen, auch nicht als die zweifelhafte Eigenschaft erfolgshungriger Politiker. Er tritt immer nur als eine „Vielheit von. Willen zur Macht’“ (Nachlass-Fragmente 40 [53] 1885) auf und betrifft die anorganische Welt ebenso wie den Kosmos möglicher Zwecke des Menschen, die zueinander in ein ständig variierendes Verhältnis der Nach- und Überordnung treten. Er ist nach Nietzsche auch wirksam in dem seit 1881 immer wieder abgehandelten, in sich widersprüchlichen Phänomen eines europ. „Nihilismus“, den er vor allem durch das Christentum initiiert sieht: „lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen“, ist Nietzsches Formel dafür. Dass der „Wille zur Macht“ als Projekt eines Hauptwerks unvollendet geblieben wäre, wurde von Montinari zweifelsfrei widerlegt.

Die „Umkehrung gewohnter Wertschätzungen“ und die „Umwertung aller Werte“. – Obwohl Nietzsche antrat, die seit Plato nicht nur in der Geschichte des Denkens etablierte Vorstellung der Dualität zweier Welten, den Widerspruch von wahrer und scheinbarer Welt, aufzuheben, und diesen Vorsatz bis zuletzt festhielt, sah er sich im Übergang vom idealismuskritischen, negativen Teil seines Werks zu den konstruktiven Entwürfen, die in den letzten sechs Jahren seines Schaffens damit einhergingen, „in einen unlösbaren Widerspruch zwischen seinem radikalen Skeptizismus … und der Notwendigkeit einer ‚Gesetzgebung’ verwickelt“ (Montinari). Dass dieser Widerspruch auch das durchgehend negative, zeit-, kultur- und geschichtskritische Denken bestimmt und zuletzt zweideutig erscheinen lässt, zeigt sich u. a. in Nietzsches Kritik des moralischen Selbstbewusstseins bzw. „Selbstbetrugs“ (MA I Vorr. 1). Zunächst folgt er seiner Methodik der „Umkehrung gewohnter Wertschätzungen“ zur Destruktion des Idealismus, der einen Gegensatz von Ideal und Wirklichkeit, von Vernunft und Interesse unterstellt. So erklärt er anhand von Praktiken des moralischen Bewusstseins, einen erlittenen Schaden als selbstlose Tat (FW 21), Ohnmacht als Güte, Niedrigkeit als Demut oder Unterwerfung als Gehorsam zu deuten (GM I, 14), daß diese nicht auf einem Missverständnis der Moral beruhen, sondern in deren Wesen begründet sind. Nach Nietzsche besteht etwa der Grundwiderspruch des Ideals der „Selbstlosigkeit“ (FW 21) darin, daß es dem Prinzip nach den Schaden des Selbstlosen und das Akzeptieren dieses Schadens unterstellt. Dieser Doppelheit entsprechend kritisiert er auch ein religiöses Bewusstsein, das, statt ein Übel durch das Beheben seiner Ursache verschwinden zu machen, durch ein „Umdeuten des Uebels in ein Gut“, das späteren Nutzen verheißt (MA I 108), die Wirkung des Übels auf die Empfindung vermindern soll („Narkotisirung“). Vor allem in den Werken der letzten drei Schaffensjahre tritt aber an die Stelle einer experimentellen Umkehrung von Wertschätzungen eine „Umwertung aller Werte“. Statt mit der Aufhebung der Differenz von wahrer und scheinbarer Welt den Bereich moralischer Vorstellungen zu verlassen und auch den außermoralischen und außerpsychologischen Gründen nachzuforschen, die den Gang der Geschichte bestimmen, entwirft er eine Gegenmoral, die die Welt bewegen soll. Das Urteil: das Gute ist nicht gut, sondern schlecht (GM I: „Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“), findet eine Fortsetzung, die das bisher als böse Geltende für gut erklärt, und ist als Ganzes keineswegs „jenseits von Gut und Böse“ angesiedelt. Gestützt auf seine erkenntnistheoretische Prämisse, die am Beispiel der Sprache die Falschheit aller synthetischen Urteile a priori konstatiert (JGB 4), erklärt er falsche Urteile a posteriori für zweckmäßig, sofern sie dem abstrakt allgemeinen Kriterium „lebensfördernd“ genügen, also der Willkür Platz einräumen. Nicht mögliches Wissen und die auf Wissen gegründete Praxis, sondern die bloße Setzung konträrer Werte gilt nun als realitätsmächtig. Der Widerspruch bleibt auch auf dem Gebiet der Religionskritik, auf dem er zwar dem Rückgang hinter historisches Wissen, dem Mythos, die Berechtigung bestreitet: „Hüten wir uns, eine solche Lehre [d. i. die ewige Wiederkehr des Gleichen] wie eine Religion zu lehren“ (Nachlass 1881), sich aber doch „in steter Nachbarschaft zur Religion“ (Montinari) befindet. Vor allem den letzten Werken Nietzsches eignet eine Zweideutigkeit, die auch durch den bis zuletzt immer hervorgehobenen Versuchscharakter seines Denkens nicht relativiert wird. Wendungen wie „die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie “ (GM I, 11), von Nietzsche provokatorisch als Symbol seiner Gegenmoral aufgebaut, die „vornehmen Rassen“ zu eigen sein soll, sind aus der „Umwertung“ resultierende Entgleisungen seines Denkens, nicht etwa Ausdruck eines sich ankündigenden organischen Zusammenbruchs; dieser deutet sich möglicherweise im forciert euphorischen Gestus der späten Äußerungen an.

Die Wirkungen der Schriften Nietzsches entsprachen weder seinen Phantasien der letzten Zeit, unmittelbar normsetzende Gewalt zu erlangen, noch seiner Vorstellung einer langfristigen latenten Wirksamkeit der konstruktiven Ideen. Dagegen unternahm Nietzsches Schwester, u. a. durch die Kompilation eines aus nachgelassenen Notizen bestehenden Hauptwerks „Der Wille zur Macht“ (1901, 483 Nummern; 1906, 1067 Nummern) alles ihr Mögliche, den Gehalt des Werks in einen am Wilhelminismus orientierten, eine germanische Rasse idealisierenden nationalistischen Mythos zu verwandeln. Seine Schriften erreichten in Gestalt der nun veranstalteten Gesamtausgaben hohe Auflagen. In der Folge haben u. a. Ernst Bertram durch seine Mythologisierung Nietzsches (1918), vor allem aber Alfred Bäumler (1931), mit seiner am germanischen Rassenideal orientierten Umdeutung, der Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten Vorschub geleistet. Eine ernsthafte philosophische Auseinandersetzung haben die Schriften Nietzsches in der ersten Jahrhunderthälfte vor allem durch Karl Jaspers und Karl Löwith erfahren, später auch durch Martin Heidegger. – Es ist die Ironie der Wirkung Nietzsches, dass mit der geglückten Verwandlung des Außenseiters Nietzsche in eine vom Wilhelminischen Deutschland anerkannte Kultfigur gerade die Voraussetzung geschaffen war für die gesellschaftliche Anerkennung von kritischen Künstlern, deren für sie bisher meist ruinöse Außenseiterstellung nun ebenso aufgewertet wurde wie sie unangetastet blieb. Eine Quelle der Anregung wurde das Werk Nietzsches für die moderne Psychologie, besonders die Psychoanalyse. Mit seiner zusammen mit Giorgio Colli 1961 begonnenen und seit 1967 erscheinenden kritischen Ausgabe der Texte hat Mazzino Montinari (1928–68) erstmals die Möglichkeit einer unverzerrten Aufnahme von Sinn und Absicht der Werke durch die Forschung eröffnet.

Nietzsches Totenmaske von Curt Stoeving

Text: Nemec, Friedrich, “Nietzsche, Friedrich” in: Neue Deutsche Biographie 19 (1999), S. 249-253 [Online-Version] (CC BY-NC-ND 3.0 DE)

Zur Lektüre empfehlen wir die Kritische Gesamtausgabe der internationalen Forschungsgruppe HyperNietzsche. Dort findest du alle Werke in sehr guter Qualität wiedergegeben, unter anderen:

Menschliches, Allzumenschliches (1878-1880)
Morgenröte (1881)
Die fröhliche Wissenschaft (1882)
Also sprach Zarathustra (1883-1885)
Jenseits von Gut und Böse (1886)
Ecce homo (1888)
Wer kann ihn nicht in Anspruch nehmen! Sage mir, was du brauchst, und ich will dir dafür ein Nietzsche-Zitat besorgen.
Kurt Tucholsky

Nach dem Tod des Vaters und der Übersiedlung der Familie nach Naumburg besuchte Nietzsche seit 1854 das Domgymnasium. 1858 erhielt er eine Freistelle in der Landesschule Pforta (Schulpforta), an der er die für seinen späteren Berufsweg entscheidende strenge, altphilologisch akzentuierte Ausbildung erhielt. Zwei damals entstandene Abhandlungen, „Fatum und Geschichte“ und „Willensfreiheit und Fatum“, berühren bereits wesentliche Themen seiner nach 1876 entwickelten Philosophie. Nach dem Abitur 1864 immatrikulierte sich Nietzsche in Bonn an der theologischen Fakultät und wechselte im folgenden Semester zur klassischen Philologie. Im Herbst 1865 setzte er das Studium in Leipzig fort, u. a. weil sein Lehrer Friedrich Ritschl (1806–76) dorthin berufen worden war. Zu dieser Zeit entdeckte Nietzsche Schopenhauers Schrift „Die Welt als Wille und Vorstellung“, die auf seine Entwicklung wesentlichen Einfluss hatte. Getragen von der Leidenschaft Schopenhauers, widmete er sich dem Studium der Philologie. Nach einem Militärdienst bis März 1868 plante Nietzsche zunächst eine Dissertation über Kant und ein naturwissenschaftliches Studium in Paris. Auf Empfehlung Ritschls wurde Nietzsche im Februar 1869 als ao. Professor auf den altphilologischen Lehrstuhl in Basel berufen (o. Prof. April 1870), im März aufgrund seiner bisherigen Arbeiten in Leipzig promoviert. Einem Besuch bei Richard Wagner, den er im Herbst 1868 kennengelernt hatte, in Tribschen bei Luzern im Mai 1869 folgten viele weitere. Im August 1870 ließ Nietzsche sich für eine freiwillige Teilnahme als Sanitäter im Krieg gegen Frankreich beurlauben. – Nietzsche verfolgte in Basel ein kulturpädagogisches Programm in kosmopolitischer Absicht, das den kulturfeindlichen Tendenzen der modernen „Civilisation“ entgegenwirken sollte. Er sah sich dabei einig mit Jacob Burckhardt, vor allem aber mit Wagner, der Nietzsche für die öffentliche Durchsetzung seines Kunstideals zu gewinnen hoffte. Dieser Erwartung entsprach Nietzsche zunächst mit seiner Schrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“ (Anfang 1872). Ausgelöst durch innere Spannungen angesichts einer zunehmenden Distanz zu Wagners künstlerischen Bestrebungen und der Unvereinbarkeit seiner Lehrverpflichtungen mit der Entwicklung seiner philosophischen Interessen, verschlechterte sich Nietzsches Gesundheitszustand seit 1873 so gravierend (u. a. migräneähnliche Kopfschmerzen, Augenschwäche), dass ihm die Basler Erziehungsbehörde 1876 einen einjährigen Urlaub gewährte. Die Zeit bis Mai 1877 verbrachte er größtenteils in Sorrent mit Malwida v. Meysenbug (1816–1903) und dem Moralpsychologen Paul Rée (1849–1901). Hier traf Nietzsche auch ein letztes Mal Ende Okt. 1876 mit Wagner zusammen. 1877 entstand der größte Teil des Aphorismenwerks „Menschliches, Allzumenschliches, Ein Buch für freie Geister“ (1878), das eine deutliche Absage an Wagners nationalistisches Kunstideal enthielt. Den grundsätzlichen Unterschied ihrer Kunst- und Kulturauffassungen hat Nietzsche später in der Polemik „Der Fall Wagner, Ein Musikantenproblem“ (1888) deutlich gemacht. Im Mai 1879 bat Nietzsche, dessen Gesundheitszustand sich rapide verschlechterte, um Entlassung aus dem Basler Amt, die ihm unter Zusicherung einer jährlichen Pension für sechs Jahre (verlängert 1885) gewährt wurde.

Die folgenden Jahre verbrachte Nietzsche als „fugitivus errans“ mit beschränkten Mitteln an wechselnden Orten – den Winter über bevorzugt in Italien (v. a. Genua, Rapallo, Nizza, Turin, zeitweise Venedig, aber auch Riva, Recoaro, Messina), im Sommer seit 1881 in Sils-Maria (Oberengadin). Eine einschneidende Zäsur in diesen Jahren bildete die Begegnung mit Lou v. Salomé (1861–1937). In ihrem Gedicht „Gebet an das Leben“, das er im Sommer desselben Jahres als „Hymnus an das Leben“ vertonte, meinte er, seine dionysische Weltsicht wiederzuerkennen, und hoffte vergeblich, eine seelenverwandte Partnerin gefunden zu haben. Mit Freunden wie Paul Deussen (1845–1919), Carl v. Gersdorff (1844–1904), Heinrich Köselitz (1854–1918), Franz Overbeck (1837–1905) und Erwin Rohde (1845–98) hielt er überwiegend brieflich Kontakt.

Am 3.1.1889 wurde bei Nietzsche in Turin eine organische Gehirnerkrankung manifest, die eine fortschreitende Zerstörung des Bewusstseins zur Folge hatte. Nachdem er Anfang Januar sog. „Wahnsinnszettel“ an Burckhardt und Overbeck geschickt hatte, holte letzterer ihn von Turin nach Basel zur Untersuchung in der Nervenklinik. Von hier brachte ihn die Mutter nach Jena, wo er bis Februar 1890 in der psychiatrischen Universitätsklinik beobachtet, danach von ihr bis Mai betreut und dann nach Naumburg zurückgebracht wurde. 1894 gründete die Schwester im Haus der Mutter ohne deren Zustimmung ein Nietzsche-Archiv. Sie übersiedelte, nachdem sie sich 1895 die Rechte am Nachlass hatte übertragen lassen, 1896 nach Weimar. Nach dem Tod der Mutter 1897 übernahm sie Nietzsche ins Archiv, wo er, als Kultobjekt aufbewahrt, weiterlebte. Die Ursachen von Nietzsches Erkrankung sind ungeklärt geblieben; sie ist möglicherweise durch eine Syphilis bedingt.

Hauptwerke. – In seiner ersten kulturphilosophischen Veröffentlichung, der „Geburt der Tragödie“ (1872), entwickelt Nietzsche anhand einer Darstellung der attischen Tragödie und einer Unterscheidung der Phänomene des Apollinischen und des Dionysischen eine Metaphysik der Kunst, die beide Phänomene vereint und sich in der Aussage verdichtet: „daß nur als ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerechtfertigt erscheint“. Bereits hierin drückt sich ein Abstand Nietzsches zu Schopenhauers Negation des Willens in der ästhetischen Betrachtung aus. Der starken öffentlichen Beachtung, die diese Schrift fand, stand die seiner ersten „Unzeitgemäßen Betrachtung“: „David Strauß, der Bekenner und Schriftsteller“ (1873) nicht nach. In polemischem Stil beschreibt Nietzsche hier am Beispiel eines „Bildungsphilisters“ den Zustand der deutschen Bildung. Mit der zweiten Betrachtung, „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ (1874), wendet sich Nietzsche mittels der Unterscheidung einer „monumentalischen“, einer „antiquarischen“ und einer „kritischen Historie“ gegen die „Hypertrophie“ der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft und macht zugleich deutlich, dass eine Rückkehr zum Mythos keinen Ausweg aus dieser Situation bietet. Die dritte dieser Schriften, „Schopenhauer als Erzieher“ (1874), sucht zu zeigen, wie ein an unbedingter Wahrhaftigkeit orientierter Denker „unzeitgemäß“ und dadurch zum Muster eines echten Philosophen wird, der seine Wahrheit l e b t. In „Richard Wagner in Bayreuth“ (Anfang 1874 begonnen, beendet Juli 1876) konfrontiert er Wagners ursprünglich revolutionäre, kosmopolitische Ideale indirekt mit der das zeitgenössische Kulturverständnis sanktionierenden Realität der Festspiele in Bayreuth.

Das Werk „Menschliches, Allzumenschliches, Ein Buch für freie Geister“ (1878-79; MA) ist die Fortsetzung der Arbeit an einer zunächst noch als „Unzeitgemäße Betrachtung“ unter dem Titel „Die Pflugschar“ geplanten Aphorismenschrift, die er im Juni 1876 begonnen hatte. Es handelt sich um eine Sammlung von in der Form durch die franz. Moralisten angeregten Aphorismen, die ihren besonderen Inhalt jeweils am Anfang benennen. Sie folgen dem Prinzip des „prodesse et delectare“ und greifen, um neun „Hauptstücke“ gruppiert, in loser Folge alle bisherigen kulturphilosophischen Themen auf. Ihre innere Einheit besteht in dem zugrundegelegten Bewusstsein eines fiktiven Subjekts, des „freien Geistes“, der allem „Idealismus“ abgesagt hat. Auf der Grundlage der Einsicht, dass „Überzeugungen … gefährlichere Feinde der Wahrheit, als Lügen“ sind (MA 483), unterzieht Nietzsche tradierte metaphysische Vorstellungen und Ideale einer psychologischen Analyse, die im Versuch der „Umkehrung gewohnter Wertschätzungen und geschätzter Gewohnheiten“ (Vorrede I, 1) ihren methodischen Ausgangspunkt hat. Ihrer Erscheinungsform und Intention nach schließen die beiden folgenden Werke unmittelbar an. Während die in fünf „Bücher“ gegliederte „Morgenröte“ (1881; M) unter dem Titel „passio nova“ konzipiert und mit dem Titel „Die Pflugschar“ als Manuskript abgeschlossen wurde, war „Die fröhliche Wissenschaft“ (1882, erweitert ²1887; FW) zunächst als Fortsetzung der „Morgenröte“ geplant. Die aphoristische Form war nicht nur das adäquate Mittel für einen Autor, der seine Gedanken auf Wanderungen fasste und auf einen ökonomischen Umgang mit seinem Augenlicht angewiesen war, sie war vor allem der angemessene Ausdruck einer Philosophie, die sich aller systematisierenden Ableitung aus dem Begriff versagt, weil sie die Grenzenlosigkeit der Erkenntnis unterstellt und davon ausgeht, „dass das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe“ (FW 324). Ging es Nietzsche zunächst um die Rückführung metaphysischer Vorurteile auf „allzumenschliche“ Gründe, so hier überwiegend um eine Kritik der Moral im Blick auf ihre historische Entstehung. Das Denken soll nun, statt im Dienst der Moral deren Abkunft aus der Vernunft glaubhaft zu machen, deren Herkommen aus der „Unvernunft“ deutlich werden lassen. In „Jenseits von Gut und Böse“ (1886; JGB) und den Abhandlungen „Zur Genealogie der Moral“ (1887; GM)|hat Nietzsche die historische Kritik der Moral weiter ausgeführt. Die Besonderheit der „Fröhlichen Wissenschaft“ im Zusammenhang seiner Werke liegt darin, dass bei der Darstellung traditioneller Metaphysik und Moral der polemische Ton fehlt, und darin, dass sie mit ihrem fünften Buch der Entstehungszeit nach das Werk „Also sprach Zarathustra“ (T. 1-4, 1883-1887) umgreift. Vor allem aber steht sie in inhaltlichem Bezug zu diesem Werk: Durch die Figur des „tollen Menschen“ (FW 125), der die Tötung Gottes durch den Menschen als epochales Ereignis begreift, durch den letzten Aphorismus des 4. Buchs, der mit der 1. Vorrede Zarathustras fast gleichlautet, und vor allem durch die Darstellung des zentralen, aus aktuellen wissenschaftlichen Quellen gespeisten Gedankens des „Zarathustra“, der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“ (FW 341), den Nietzsche im August 1881 als für ihn entscheidende Erfahrung festgehalten hat. Für Nietzsche erlangt dieser hypothetische Gedanke außerordentliches Gewicht als Gegensatz zu theistischen Vorstellungen, die einen willkürlichen Gott unterstellen. In „Also sprach Zarathustra“ rückt ein weiterer Gedanke in den Mittelpunkt: Zarathustras Lehre vom „Übermenschen“; dieser ist keineswegs gedacht als „ästhetisierender Athlet“ oder gar „Prototyp einer, Herrenrasse’“, er bezeichnet vielmehr, wie sein Gegenpol, der „letzte Mensch“, eine Grenze „am Horizont einer antimetaphysischen, antipessimistischen Vision der Welt“ (Montinari). Daneben tritt im „Zarathustra“ ein dritter Gedanke, der in den Überlegungen zu JGB und zur GM, vor allem aber in den Vorarbeiten zu den sog. Spätwerken des Herbstes 1888 „Götzendämmerung“ (1889) und „Der Antichrist“ (1895) eine beherrschende Stellung gewinnt und mit den beiden anderen den „konstruktiven Teil seiner Philosophie“ (Montinari) darstellt: die „Theorie eines in allem Geschehen sich abspielenden Macht-Willens “ (GM II, 12). Nietzsche bestimmt diesen Willen als das Wesen des Lebens selbst, als „das, was sich immer selbst überwinden muß“ (II, Von der Selbstüberwindung). Er ist nicht als metaphysisches Prinzip neben und hinter aller Erscheinung misszuverstehen, auch nicht als die zweifelhafte Eigenschaft erfolgshungriger Politiker. Er tritt immer nur als eine „Vielheit von. Willen zur Macht’“ (Nachlass-Fragmente 40 [53] 1885) auf und betrifft die anorganische Welt ebenso wie den Kosmos möglicher Zwecke des Menschen, die zueinander in ein ständig variierendes Verhältnis der Nach- und Überordnung treten. Er ist nach Nietzsche auch wirksam in dem seit 1881 immer wieder abgehandelten, in sich widersprüchlichen Phänomen eines europ. „Nihilismus“, den er vor allem durch das Christentum initiiert sieht: „lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen“, ist Nietzsches Formel dafür. Dass der „Wille zur Macht“ als Projekt eines Hauptwerks unvollendet geblieben wäre, wurde von Montinari zweifelsfrei widerlegt.

Die „Umkehrung gewohnter Wertschätzungen“ und die „Umwertung aller Werte“. – Obwohl Nietzsche antrat, die seit Plato nicht nur in der Geschichte des Denkens etablierte Vorstellung der Dualität zweier Welten, den Widerspruch von wahrer und scheinbarer Welt, aufzuheben, und diesen Vorsatz bis zuletzt festhielt, sah er sich im Übergang vom idealismuskritischen, negativen Teil seines Werks zu den konstruktiven Entwürfen, die in den letzten sechs Jahren seines Schaffens damit einhergingen, „in einen unlösbaren Widerspruch zwischen seinem radikalen Skeptizismus … und der Notwendigkeit einer ‚Gesetzgebung’ verwickelt“ (Montinari). Dass dieser Widerspruch auch das durchgehend negative, zeit-, kultur- und geschichtskritische Denken bestimmt und zuletzt zweideutig erscheinen lässt, zeigt sich u. a. in Nietzsches Kritik des moralischen Selbstbewusstseins bzw. „Selbstbetrugs“ (MA I Vorr. 1). Zunächst folgt er seiner Methodik der „Umkehrung gewohnter Wertschätzungen“ zur Destruktion des Idealismus, der einen Gegensatz von Ideal und Wirklichkeit, von Vernunft und Interesse unterstellt. So erklärt er anhand von Praktiken des moralischen Bewusstseins, einen erlittenen Schaden als selbstlose Tat (FW 21), Ohnmacht als Güte, Niedrigkeit als Demut oder Unterwerfung als Gehorsam zu deuten (GM I, 14), daß diese nicht auf einem Missverständnis der Moral beruhen, sondern in deren Wesen begründet sind. Nach Nietzsche besteht etwa der Grundwiderspruch des Ideals der „Selbstlosigkeit“ (FW 21) darin, daß es dem Prinzip nach den Schaden des Selbstlosen und das Akzeptieren dieses Schadens unterstellt. Dieser Doppelheit entsprechend kritisiert er auch ein religiöses Bewusstsein, das, statt ein Übel durch das Beheben seiner Ursache verschwinden zu machen, durch ein „Umdeuten des Uebels in ein Gut“, das späteren Nutzen verheißt (MA I 108), die Wirkung des Übels auf die Empfindung vermindern soll („Narkotisirung“). Vor allem in den Werken der letzten drei Schaffensjahre tritt aber an die Stelle einer experimentellen Umkehrung von Wertschätzungen eine „Umwertung aller Werte“. Statt mit der Aufhebung der Differenz von wahrer und scheinbarer Welt den Bereich moralischer Vorstellungen zu verlassen und auch den außermoralischen und außerpsychologischen Gründen nachzuforschen, die den Gang der Geschichte bestimmen, entwirft er eine Gegenmoral, die die Welt bewegen soll. Das Urteil: das Gute ist nicht gut, sondern schlecht (GM I: „Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“), findet eine Fortsetzung, die das bisher als böse Geltende für gut erklärt, und ist als Ganzes keineswegs „jenseits von Gut und Böse“ angesiedelt. Gestützt auf seine erkenntnistheoretische Prämisse, die am Beispiel der Sprache die Falschheit aller synthetischen Urteile a priori konstatiert (JGB 4), erklärt er falsche Urteile a posteriori für zweckmäßig, sofern sie dem abstrakt allgemeinen Kriterium „lebensfördernd“ genügen, also der Willkür Platz einräumen. Nicht mögliches Wissen und die auf Wissen gegründete Praxis, sondern die bloße Setzung konträrer Werte gilt nun als realitätsmächtig. Der Widerspruch bleibt auch auf dem Gebiet der Religionskritik, auf dem er zwar dem Rückgang hinter historisches Wissen, dem Mythos, die Berechtigung bestreitet: „Hüten wir uns, eine solche Lehre [d. i. die ewige Wiederkehr des Gleichen] wie eine Religion zu lehren“ (Nachlass 1881), sich aber doch „in steter Nachbarschaft zur Religion“ (Montinari) befindet. Vor allem den letzten Werken Nietzsches eignet eine Zweideutigkeit, die auch durch den bis zuletzt immer hervorgehobenen Versuchscharakter seines Denkens nicht relativiert wird. Wendungen wie „die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie “ (GM I, 11), von Nietzsche provokatorisch als Symbol seiner Gegenmoral aufgebaut, die „vornehmen Rassen“ zu eigen sein soll, sind aus der „Umwertung“ resultierende Entgleisungen seines Denkens, nicht etwa Ausdruck eines sich ankündigenden organischen Zusammenbruchs; dieser deutet sich möglicherweise im forciert euphorischen Gestus der späten Äußerungen an.

Die Wirkungen der Schriften Nietzsches entsprachen weder seinen Phantasien der letzten Zeit, unmittelbar normsetzende Gewalt zu erlangen, noch seiner Vorstellung einer langfristigen latenten Wirksamkeit der konstruktiven Ideen. Dagegen unternahm Nietzsches Schwester, u. a. durch die Kompilation eines aus nachgelassenen Notizen bestehenden Hauptwerks „Der Wille zur Macht“ (1901, 483 Nummern; 1906, 1067 Nummern) alles ihr Mögliche, den Gehalt des Werks in einen am Wilhelminismus orientierten, eine germanische Rasse idealisierenden nationalistischen Mythos zu verwandeln. Seine Schriften erreichten in Gestalt der nun veranstalteten Gesamtausgaben hohe Auflagen. In der Folge haben u. a. Ernst Bertram durch seine Mythologisierung Nietzsches (1918), vor allem aber Alfred Bäumler (1931), mit seiner am germanischen Rassenideal orientierten Umdeutung, der Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten Vorschub geleistet. Eine ernsthafte philosophische Auseinandersetzung haben die Schriften Nietzsches in der ersten Jahrhunderthälfte vor allem durch Karl Jaspers und Karl Löwith erfahren, später auch durch Martin Heidegger. – Es ist die Ironie der Wirkung Nietzsches, dass mit der geglückten Verwandlung des Außenseiters Nietzsche in eine vom Wilhelminischen Deutschland anerkannte Kultfigur gerade die Voraussetzung geschaffen war für die gesellschaftliche Anerkennung von kritischen Künstlern, deren für sie bisher meist ruinöse Außenseiterstellung nun ebenso aufgewertet wurde wie sie unangetastet blieb. Eine Quelle der Anregung wurde das Werk Nietzsches für die moderne Psychologie, besonders die Psychoanalyse. Mit seiner zusammen mit Giorgio Colli 1961 begonnenen und seit 1967 erscheinenden kritischen Ausgabe der Texte hat Mazzino Montinari (1928–68) erstmals die Möglichkeit einer unverzerrten Aufnahme von Sinn und Absicht der Werke durch die Forschung eröffnet.

Nietzsches Totenmaske von Curt Stoeving

Text: Nemec, Friedrich, “Nietzsche, Friedrich” in: Neue Deutsche Biographie 19 (1999), S. 249-253 [Online-Version] (CC BY-NC-ND 3.0 DE)

Zur Lektüre empfehlen wir die Kritische Gesamtausgabe der internationalen Forschungsgruppe HyperNietzsche. Dort findest du alle Werke in sehr guter Qualität wiedergegeben, unter anderen:

Menschliches, Allzumenschliches (1878-1880)
Morgenröte (1881)
Die fröhliche Wissenschaft (1882)
Also sprach Zarathustra (1883-1885)
Jenseits von Gut und Böse (1886)
Ecce homo (1888)

Ehrungen

nicht nur der größte Philosoph des ausgehenden 19. Jahrhunderts, sondern einer der unerschrockensten Helden überhaupt im Reich des Gedankens
Thomas Mann

Porträt von Edvard Munch 1906
Porträt von Hans Olde (Foto des Originals im Nietzsche-Archiv Weimar)
Arnold Kramer: Nietzsche im Krankenstuhl, Bronze (1898)
Heinrich Apel: Nietzsche-Skulptur in Naumburg
Also sprach Zarathustra
Sinfonische Dichtung von Richard Strauss
Porträt von Curt Stoeving 1894
Porträt von Theo van Doesburg
Max Kruse: Gipsabguss einer Marmorbüste
Karl Donndorf: Muschelkalk-Büste (1901)
Max Klinger: Bronze 1902
Otto Dix: Gipsbüste um 1913
Klaus F. Messerschmidt: Skulpturengruppe in Röcken

»Wieviel Wahrheit kann der Mensch ertragen?« das war die Frage des tapferen Denkers ein ganzes Leben hindurch.
Stefan Zweig

Mit staatlichen Ehrungen tat man sich überall schwer. So konnten wir weltweit nur drei Briefmarkenausgaben finden, die Friedrich Nietzsche würdigen. Auch auf Orden, Münzen und Banknoten hat er es nach unserer Kenntnis nicht geschafft.

Briefmarke Togo 2011
Briefmarke Deutschland 2000
Briefmarke Guinea 1998

Durchaus einzig und die größten aller verstehenden Psychologen sind Kierkegaard und Nietzsche.
Karl Jaspers

Bildnachweis
Max Klinger Bronze: Klassik Stiftung Weimar
Thorbjoern: Nietzsche-Skulpturengruppe Röcken, (CC BY 3.0)

Audionachweis
Also sprach Zarathustra: Richard Strauss, Interpret: Sascha Ende (CC BY 4.0)

Zitatnachweis
Kurt Tucholsky “Fräulein Nietzsche” Die Weltbühne, 12.01.1932
Biografie: Nemec, Friedrich, “Nietzsche, Friedrich” in: Neue Deutsche Biographie 19 (1999), S. 249-253 [Online-Version] (CC BY-NC-ND 3.0 DE)
Thomas Mann “Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung” Vortrag PEN-Clubs in Zürich, 3. Juni 1947
Stefan Zweig “Der Kampf mit dem Dämon: Hölderlin – Kleist – Nietzsche” Leipzig: Insel 1925
Karl Jaspers “Allgemeine Psychopathologie” Berlin, Heidelberg: Springer 1946

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