Herbert Marcuse

Herbert Marcuse
* 19.07.1898 in Berlin
† 29.07.1979 in Starnberg
war ein deutsch-amerikanischer Philosoph und Sozialtheoretiker, der für seine Beiträge zur kritischen Theorie und zur politischen Philosophie bekannt ist.

Herbert Marcuse
* 19.07.1898 in Berlin
† 29.07.1979 in Starnberg
war ein deutsch-amerikanischer Philosoph und Sozialtheoretiker, der für seine Beiträge zur kritischen Theorie und zur politischen Philosophie bekannt ist.

Gemessen am Jargon deutscher Philosophen sprach Marcuse eine direkte, affirmative und leichtverständliche Sprache, ohne die rhetorischen Schlupflöcher, in denen die anstößigen Folgen eines dialektischen Arguments sich hätten verbergen können.
Jürgen Habermas

Herbert Marcuse in Newton, Massachusetts 1955

Herbert Marcuse war ein einflussreicher deutsch-amerikanischer Philosoph und Sozialtheoretiker des 20. Jahrhunderts, der für seine Beiträge zur kritischen Theorie und zur politischen Philosophie bekannt ist. Geboren am 19. Juli 1898 in Berlin, erlebte Marcuse eine bewegte Lebensgeschichte, die von politischem Engagement, intellektuellem Beitrag und der Flucht vor den Schrecken des Zweiten Weltkriegs geprägt war.

Marcuse studierte in den 1920er Jahren an den Universitäten in Freiburg und Berlin, wo er von der Ideologie des Marxismus und der Kritischen Theorie beeinflusst wurde. In den frühen 1930er Jahren schloss er sich der Frankfurter Schule an, einer Gruppe von Intellektuellen, die die marxistische Theorie weiterentwickelten und die gesellschaftlichen Verhältnisse kritisch untersuchten.

Mit dem Aufstieg der Nazis in Deutschland emigrierte Marcuse 1934 in die USA. Dort lehrte er zunächst an verschiedenen Universitäten und wurde später Professor für Soziologie an der Brandeis University. Während seiner Zeit in Amerika veröffentlichte er einige seiner einflussreichsten Werke, darunter “Der eindimensionale Mensch” (1964), in dem er die Konsumgesellschaft kritisierte und argumentierte, dass die Massenkultur die individuelle Freiheit und Kreativität unterdrückt.

Marcuse war ein wichtiger Denker in der Protestbewegung der 1960er Jahre. Seine Ideen fanden Anklang bei Studenten und Aktivisten, die gegen den Vietnamkrieg und die gesellschaftliche Unterdrückung protestierten. Er betonte die Bedeutung von Emanzipation und Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen und war ein Verfechter von sozialer Gerechtigkeit und Revolution.

In den letzten Jahren seines Lebens kehrte Marcuse nach Deutschland zurück und verbrachte seine Zeit zwischen den USA und Europa. Er blieb ein aktiver Intellektueller und veröffentlichte weiterhin Bücher und Aufsätze zu politischen und philosophischen Themen.

Herbert Marcuse war zweifellos einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts und hinterließ einen bleibenden Eindruck auf die Politik- und Sozialtheorie. Seine Arbeiten zur Kritik der Konsumgesellschaft, zur Ideologie und zur Befreiungstheorie haben weiterhin Relevanz für aktuelle Diskussionen über Macht, Kapitalismus und soziale Gerechtigkeit. Sein Engagement für die Ideale der Freiheit und Gerechtigkeit macht ihn zu einer wichtigen Figur in der intellektuellen Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Werke

Das erste Hauptwerk von Herbert Marcuse erschien 1955 in den USA unter dem Titel “Eros and Civilization“. Die deutsche Ausgabe erschien 1957 im Klett Verlag Stuttgart, später unter dem Titel “Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud” im Suhrkamp Verlag Frankfurt.
Marcuse untersucht darin die Beziehung zwischen menschlicher Sexualität und gesellschaftlicher Unterdrückung. Marcuse argumentiert, dass die traditionellen kapitalistischen Gesellschaften die natürlichen menschlichen Instinkte, insbesondere das sexuelle Verlangen, unterdrücken, um die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten. Das Buch ruft zu einer radikalen Umgestaltung der Gesellschaft auf, so dass menschliche Instinkte nicht mehr unterdrückt werden, was zu größerer persönlicher Freiheit und sozialem Fortschritt führt.

Auf Grund noch bestehender Urheberrechte können wir dieses Werk hier nicht wiedergeben.

Das zweite Hauptwerk von Herbert Marcuse erschien 1964 in den USA unter dem Titel »The One-Dimensional Man. Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society«.
Die deutsche Ausgabe erschien 1967 im Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied.
“Herbert Marcuse konstatiert einen lückenlosen Zusammenhang von Manipulation und Konformismus, der das in sich widerspruchsvolle kapitalistische Gesellschaftssystem stabilisiert
und nur noch Randgruppen, Außenseiter, Unterprivilegierte und Intellektuelle zu subversivem Bewußtsein kommen läßt. Er hat nicht nur das Manifest der Großen Weigerung dieser verzweifelt ausbrechenden Minderheiten geschrieben, auch die Alternative, die Aufklärung der Ausgebeuteten
und Manipulierten dennoch zu organisieren, ist selten illusionsloser verdeutlicht worden. Mit diesem Buch, das 1964 erstmals in den USA erschien, hat Marcuse einen tiefen Einfluß auf das kritische Bewußtsein einer ganzen Generation der westlichen Welt ausgeübt.” (Verlagstext dtv-Ausgabe)

Auf Grund noch bestehender Urheberrechte können wir dieses Werk hier nicht wiedergeben.

Herbert Marcuse
Der Eindimensionale Mensch

Gegenstand von Marcuses Kritik ist nicht der Zustand der Gesellschaft an sich, sondern die Tatsache, dass die Menschen sich mit diesem Zustand abfinden, obwohl sie in der Lage wären, ihn zu ändern. Unfreiheit, Unterdrückung und Ungerechtigkeit gab es wohl zu allen Zeiten, aber vielleicht erstmals in der Geschichte sind die Voraussetzungen für eine neue Qualität menschlichen Miteinanders gegeben. Diese Erkenntnis zieht sich durch Marcuses Werk: »eine bestimmte historische Praxis wird an ihren eigenen geschichtlichen Alternativen gemessen.«
Die fehlende Bereitschaft, über diese Alternativen nachzudenken, gar für sie zu kämpfen, macht er am beispiellosen Erfolg des kapitalistischen Systems fest.
» Der Macht, die diese Gesellschaft über den Menschen gewonnen hat, wird durch ihre Leistungsfähigkeit und Produktivität täglich Absolution erteilt. [aber:] Die Tatsache, dass die große Mehrheit der Bevölkerung diese Gesellschaft hinnimmt und dazu gebracht wird, sie hinzunehmen, macht sie nicht weniger irrational und verwerflich.«
Was unterscheidet die heutige Lage von der, die Marcuse vor fünfzig Jahren beschreibt?
In den USA, wo er seit seiner Emigration die meiste Zeit lebte, war die wirtschaftliche Situation eine andere als im kriegsgeschundenen Europa, und aus dieser resultierten seine Einsichten, die ihrer Zeit weit voraus scheinen.
»Es ist der kennzeichnende Zug der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, dass sie diejenigen Bedürfnisse wirksam drunten hält, die nach Befreiung verlangen – eine Befreiung auch von dem, was erträglich, lohnend und bequem ist – während sie die zerstörerische Macht und unterdrückende Funktion der Gesellschaft »im Überfluss« unterstützt und freispricht. Hierbei erzwingen die sozialen Kontrollen das überwältigende Bedürfnis nach Produktion und Konsumtion von unnützen Dingen; das Bedürfnis nach abstumpfender Arbeit, wo sie nicht mehr wirklich notwendig ist; das Bedürfnis nach Arten der Entspannung, die diese Abstumpfung mildern und verlängern; das Bedürfnis, solche trügerischen Freiheiten wie freien Wettbewerb bei verordneten Preisen zu erhalten, eine freie Presse, die sich selbst zensiert, freie Auswahl zwischen gleichwertigen Marken und nichtigem Zubehör bei grundsätzlichem Konsumzwang.«
In Europa und speziell in Deutschland hatte der neu gewonnene Wohlstand gerade erst begonnen; Überfluss begann sich bestenfalls abzuzeichnen. Warnungen vor einem totalitären Konsumismus konnten deshalb nicht auf fruchtbaren Boden fallen. Umso wichtiger scheint es, sich erneut der Botschaften von damals zu besinnen und die Frage zu stellen, warum sie uns heute so wenig gelten. Nun kann ja die Tatsache, dass es in diesen fünfzig Jahren nicht gelungen ist, einen Widerstand zu konstituieren, zweierlei bedeuten:
1. Marcuse hatte nicht recht, und ein solcher Widerstand ist somit gar nicht erforderlich; oder
2. Das System hat sich tatsächlich als so geschmeidig erwiesen, dass es ihm gelungen ist, negative Kräfte zu assimilieren.
Betrachten wir die aktuelle Situation, die von rücksichtsloser Ausbeutung natürlicher Ressourcen, von immer stärkerer Polarisation des Wohlstands und Isolation gegenüber den Armen dieser Welt gekennzeichnet ist, dürfte Variante 1 wohl ausscheiden. Wenn Harald Welzer heute von der »unbegrenzten Geschmeidigkeit kapitalistischer Aneignung« spricht, dann ist es die moderne Übersetzung dessen, was Marcuse voraussah:
»Ausgeweitet zu einem ganzen System von Herrschaft und Gleichschaltung, bringt der technische Fortschritt Lebensformen (und solche der Macht) hervor, welche die Kräfte, die das System bekämpfen, zu besänftigen scheinen. Die gegenwärtige Gesellschaft scheint imstande, einen sozialen Wandel zu unterbinden — eine qualitative Veränderung, die wesentlich andere Institutionen durchsetzen würde, eine neue Richtung des Produktionsprozesses, neue Weisen menschlichen Daseins. Die Unterbindung sozialen Wandels ist vielleicht die hervorstechendste Leistung der fortgeschrittenen Industriegesellschaft.«
Die Besänftigung, von der hier die Rede ist, bewirkte auch einen qualitativen Wandel der Opposition in den entwickelten Industrieländern. Während in den sechziger Jahren das Infragestellen des Systems noch selbstverständliches Anliegen echter Opposition war, das System in Frage zu stellen, befindet sich diese heutzutage in einer Rolle, die Marcuse schon schwante:
»Eine solche Gesellschaft kann mit Recht verlangen, dass ihre Prinzipien und Institutionen hingenommen werden, und kann die Opposition auf die Diskussion und Förderung alternativer politischer Praktiken innerhalb des Status quo einschränken. … Die Denkbewegung wird vor Schranken angehalten, die als die Grenzen der Vernunft selbst erscheinen.«
Dies ist es, was Marcuse als eindimensionales Denken charakterisiert, und was bei ihm noch wie eine Überlegung klingt, ist heute traurige Gewissheit:
»Wenn die Individuen – und das macht sogar ihr Glück aus – mit den Gütern und Dienstleistungen zufrieden sind, die ihnen von der Verwaltung heruntergereicht werden, warum sollten sie auf anderen Einrichtungen um einer anderen Produktion anderer Güter und Dienstleistungen willen bestehen? Und wenn die Individuen derart präformiert sind, dass zu den befriedigenden Gütern auch Gedanken, Gefühle und Wünsche gehören, warum sollten sie selbst denken, fühlen und sich etwas vorstellen? Zwar mögen die angebotenen materiellen und geistigen Waren schlecht, verschwenderisch, Schund sein — aber Geist und Erkenntnis sind keine durchschlagenden Argumente gegen die Befriedigung von Bedürfnissen.«
Doch welchen Preis hat der moderne Mensch für diese Bedürfnisbefriedigung zu zahlen? – Nicht weniger als den Verzicht auf selbstbestimmtes Dasein und den Verlust einer guten Zukunft. Was 1964 noch als vage Vision, als theoretisches Geplänkel erscheinen mochte, bewahrheitet sich dieser Tage in tragischer Weise:
»Die freie Wahl der Herren schafft die Herren oder die Sklaven nicht ab. Freie Auswahl unter einer breiten Mannigfaltigkeit von Gütern und Dienstleistungen bedeutet keine Freiheit, wenn diese Güter und Dienstleistungen die soziale Kontrolle über ein Leben von Mühe und Angst aufrechterhalten … es besteht kein Grund, auf Selbstbestimmung zu dringen, wenn das verwaltete Leben das bequeme und sogar »gute« Leben ist. Das ist der rationale und materielle Grund für die Vereinigung der Gegensätze, für eindimensionales politisches Verhalten.«
In dieser schieren Ausweglosigkeit erkennt Marcuse den Schlüssel zu neuem Denken in der Definition von Bedürfnissen.
»Wir können wahre und falsche Bedürfnisse unterscheiden. »Falsch« sind diejenigen, die dem Individuum durch partikuläre gesellschaftliche Mächte, die an seiner Unterdrückung interessiert sind, auferlegt werden: diejenigen Bedürfnisse, die harte Arbeit, Aggressivität, Elend und Ungerechtigkeit verewigen. Ihre Befriedigung mag für das Individuum höchst erfreulich sein, aber dieses Glück ist kein Zustand, der aufrecht erhalten und geschützt werden muss, wenn es dazu dient, die Entwicklung derjenigen Fähigkeit (seine eigene und die anderer) zu hemmen, die Krankheit des Ganzen zu erkennen und die Chancen zu ergreifen, diese Krankheit zu heilen. … Die einzigen Bedürfnisse, die einen uneingeschränkten Anspruch auf Befriedigung haben, sind die vitalen — Nahrung, Kleidung und Wohnung auf dem erreichbaren Kulturniveau.«
Doch Marcuse weiß, dass er sich damit auf dünnes Eis begibt, denn der vorherrschende Liberalismus lehnt jedes Diktat über die Berechtigung individueller Bedürfnisse ab. So stellt er vorsichtig die Frage:
»Welches Tribunal kann für sich die Autorität der Entscheidung beanspruchen? In letzter Instanz muss die Frage, was wahre und was falsche Bedürfnisse sind, von den Individuen selbst beantwortet werden, das heißt sofern und wenn sie frei sind, ihre eigene Antwort zu geben. Solange sie davon abgehalten werden, autonom zu sein, solange sie (bis in ihre Triebe hinein) geschult und manipuliert werden, kann ihre Antwort auf diese Frage nicht als ihre eigene verstanden werden. Deshalb kann sich auch kein Tribunal legitimerweise das Recht anmaßen, darüber zu befinden, welche Bedürfnisse entwickelt und befriedigt werden sollten.«
Eine unter ethischen Gesichtspunkten geführte Debatte über die Legitimität von Bedürfnissen wird letztendlich an Formen der Sanktionierung schädlicher Lebensweisen nicht vorbeikommen. Im weitesten Sinne sah Marcuse dies ebenso, denn er meinte:
»Freilich ist es ein paradoxer und Anstoß erregender Gedanke, einer ganzen Gesellschaft Vernunft auferlegen zu wollen — obgleich sich die Rechtschaffenheit einer Gesellschaft bestreiten ließe, die diesen Gedanken lächerlich macht, während sie ihre eigene Bevölkerung in Objekte totaler Verwaltung überführt.«
Damit kommen wir zum vielleicht wichtigsten Punkt in Marcuses Betrachtungen. Er leitet ab, dass unter diesen Verhältnissen einer allgemeinen Akzeptanz des Systems und fehlender Opposition sich zwangsläufig totalitäre Erscheinungen in der Gesellschaft ausbreiten werden. Marcuses Gedanken dazu sollen abschließend die Einsicht vertiefen, wie wichtig es ist, die Gesellschaft wieder zu mehrdimensionalem Denken zu bewegen.
»Infolge der Art, wie sie ihre technische Basis organisiert hat, tendiert die gegenwärtige Industriegesellschaft zum Totalitären. Denn »totalitär« ist nicht nur eine terroristische politische Gleichschaltung der Gesellschaft, sondern auch eine nichtterroristische ökonomisch-technische Gleichschaltung, die sich in der Manipulation von Bedürfnissen durch althergebrachte Interessen geltend macht. Sie beugt so dem Aufkommen einer wirksamen Opposition gegen das Ganze vor. Nicht nur eine besondere Regierungsform oder Parteiherrschaft bewirkt Totalitarismus, sondern auch ein besonderes Produktions- und Verteilungssystem, das sich mit einem »Pluralismus« von Parteien, Zeitungen, »ausgleichenden Mächten« etc. durchaus verträgt. … Das eindimensionale Denken wird von den Technikern der Politik und ihren Lieferanten von Masseninformation systematisch gefördert. Ihr sprachliches Universum ist voller Hypothesen, die sich selbst bestätigen und die, unaufhörlich und monopolistisch wiederholt, zu hypnotischen Definitionen oder Diktaten werden.«
Ein Gesellschaftssystem, das von all seinen Bürgern Absolution erteilt bekommt, wird zwangsläufig totalitär. Deshalb ist zwingend die Frage zu stellen, ob es diese Absolution wirklich verdient hat.

Dieser berühmte Essay erschien 1965 in dem Buch “Kritik der reinen Toleranz” beim Suhrkamp-Verlag. Marcuse begründet darin eine befreiende Intoleranz sowie die Legitimation von zivilem Ungehorsam. Neben “Der Eindimensionale Mensch” gehörte es zum theoretischen Rüstzeug der Studentenbewegung.

Auf Grund noch bestehender Urheberrechte können wir dieses Werk hier nicht wiedergeben.

Bildnachweis
Columbia University, 1918: US National Archives Identifier 26425576
Marcuse-Graffiti: thierry ehrmann (CC BY 2.0)
Marcuse Foto 1955: Marcuse family, represented by Harold Marcuse (CC BY-SA 3.0)
Marx Mao Marcuse: Collage (Text wurde von uns eingefügt), Foto: Stiftung Haus der Geschichte (CC BY-SA 2.0)

Zitatnachweis
Jürgen Habermas: “Philosophisch-politische Profile” Frankfurt: Suhrkamp 1987

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