Hildegard von Bingen

Ruine des Kloster Disibodenberg

Als 10. Kind Gott geweiht, wird Hildegard der geistlichen Erziehung der Reklusin Jutta von Spanheim anvertraut. Auf dem Disibodenberg bei Bingen erhält die „inclusa“ Elementarunterricht in der „Regula Benedicti“, der Liturgik und einem Teil der „Artes liberales“. Um 1114 nimmt sie aus der Hand des Bischofs Otto von Bamberg den Schleier. Nach Juttas Tod wird Hildegard 1136 zur „magistra“ des Frauenkonvents gewählt. Zwischen 1147 und 1152 gründet sie ein Kloster auf dem Rupertsberg, das durch seine großzügige bauliche und hygienische Konzeption berühmt wurde (1632 durch die Schweden zerstört). 1158 läßt sich Hildegard durch EB Arnold von Mainz die Rechtsgrundlagen ihres Klosters sichern. Am 16.4.1163 stellt ihr Friedrich Barbarossa auf dem Hoftag zu Mainz einen Schutzbrief aus, in dem der Name „abbatissa“ erstmals urkundlich erwähnt ist. Auf dem gegenüberliegenden Rheinufer oberhalb Rüdesheim gründet Hildegard 1165 in einer leerstehenden Augustinerabtei ein Filialkloster, das 1802 säkularisiert wurde und heute Sitz der Sankt Hildegardis-Abtei zu Eibingen ist.

Im Jahre 1141 beginnt Hildegard, unter dem Eindruck visionärer Erlebnisse und mit Hilfe des Mönches Volmar und der Nonne Richardis von Stade ihre Schau von der Schöpfung und Erlösung der Welt (Sci vias) niederzuschreiben. 1147/48 lässt Papst Eugen III. durch eine Kommission auf dem Disibodenberg die Schrift prüfen, um auf der Trierer Synode ihren visionären Charakter zu bestätigen. Um die Jahrhundertmitte haben diese Visionen wie auch eine weitreichende Korrespondenz und zahlreiche Liedschöpfungen Hildegards Ruf einer „prophetissa teutonica“ begründet. Bereits in diesen frühen Schriften begegnet uns nicht nur das geschlossene Welt- und Menschenbild, sondern auch ein erstrangiges politisches Dokument, in welchem die Seherin ihre energische Zeitkritik vorträgt. Unmittelbar damit verknüpft sind die vier großen Predigtreisen, die in das Jahrzehnt zwischen 1160 und 1170 fallen und auf denen Hildegard im Stil der evangelischen Volkspredigt ihr weibisches Zeitalter (tempus muliebre) attackiert. Die Predigten richten sich ebenso gegen eine zwiespältige Diplomatie wie gegen den verrotteten Klerus, vor allem aber gegen die aufkommende Häresie der Katharer. Die 1. Missionsreise führt Hildegard um 1160 nach Mainz, Würzburg, Kitzingen, Ebrach und Bamberg, eine zweite nach Trier, Metz und Lothringen. Zwischen 1161 und 1163 fällt eine Rheinfahrt über Boppard und Andernach nach Köln und Werden an der Ruhr. Auf ihrer letzten Predigtfahrt bereist Hildegard um 1170 Maulbronn, Hirsau, Kirchheim unter Teck und Zwiefalten. Inhalt und Echo dieser Missionsreisen, die zu Pferd, per Schiff oder zu Fuß durchgeführt wurden, spiegeln sich in eigenen Sendschreiben sowie im Briefwechsel; sie zeugen vom Ansehen der Prophetin wie auch vom Mut ihres öffentlichen Auftretens. Noch im hohen Alter kämpft Hildegard gegen das 1179 von den Mainzer Prälaten erlassene Interdikt und verschafft ihrem Kloster eine Ehrenrettung. Kurz nach Aufhebung des Interdiktes verstarb Hildegard auf dem Rupertsberg. Seit Beginn des 15. Jahrhunderts wird sie als Heilige in kirchlichen Kalendarien und Martyrologien aufgenommen, obwohl das Kanonisationsverfahren, eingeleitet unter den Päpsten Gregor IX. und Innozenz IV., zu keinem Abschluss kam.
(Fortsetzung des Textes unter “Werke”)

Text: Schipperges, Heinrich, “Hildegard von Bingen” in: Neue Deutsche Biographie 9 (1972), S. 131-133 [Online-Version] (CC BY-NC-ND 3.0 DE)

Das ungewöhnlich breit angelegte Werk Hildegards blieb für Jahrhunderte ohne Wirkung. Zwar weist das „Verfasserlexikon“ der deutschen Literatur des Mittelalters auf die „zahlreichen Sparten kulturgeschichtlicher Gebiete“ hin, die durch Hildegard erschlossen wurden und die uns einen vielseitigen Einblick in das religiöse, politische, wissenschaftliche, ärztliche und gesellschaftliche Denken und Leben der Zeit geben könnten. Der Universalismus ihres Denkens und Handelns aber ist bereits im 13. Jahrhundert nicht mehr zur Geltung gekommen. Die umfassende symbolistische Weltschau Hildegards wurde durch den neuplatonisch-arabistischen Aristotelismus überflutet; ihre theologisch wie naturphilosophisch unterbaute Anthropologie konnte sich nicht gegen den „neuen Aristoteles“ behaupten, wie er an den Schulen von Salerno, Chartres und Toledo assimiliert wurde, um in der thomistischen Scholastik kanonisiert zu werden. Das Gesamtwerk war bald schon auf das vom Prior Gebeno von Eberbach 1220 kompilierte pseudo-prophetische „Speculum futurorum temporum“ geschrumpft und durch die einseitige Beurteilung in den „Opera historica“ (1601) des Abtes Trithemius in Misskredit geraten. Immerhin finden wir unter den Frühdrucken sowohl Hildegards „Scivias“ (1513) als auch die „Physica“ (1533), die auch der Ausgabe Migne, PL 197 (1855) zugrundeliegen. In den letzten 50 Jahren erst zeigt sich eine stärkere Hinwendung auf die Quellen und damit erstmalig auf die weitgespannte und reichgegliederte Thematik des Gesamtschrifttums.

Im Mittelpunkt der Werke Hildegards steht zweifellos die visionäre Trilogie. 1141-51 schrieb sie am „Liber Scivias“, einer Glaubenslehre, die Kosmologie und Anthropologie aufs engste mit der Theologie verknüpft. Zwischen 1158 und 1163 entstand der „Liber vitae meritorum“, Wechselgespräche der Tugenden und Laster nach Art der traditionellen Psychomachien, vorgestellt unter universalem Aspekt und mit originellem psychologischen Tiefblick. In das Jahrzehnt 1163-73 fallen die grandiosen Kosmosvisionen des „Liber divinorum operum“, der in der Genter Handschrift des 12. Jahrhunderts den Titel „De operatione Dei“ trägt. Das „Buch der Gotteswerke“ wird mit Recht als Hildegards zentrale schöpferische Leistung angesehen. In zehn Visionen entfaltet sich eine kosmologisch unterbaute Heilsgeschichte von der Genesis bis zur Apokalypse, wobei die Deutung des Johannes-Prologs die verbindliche Sicht auf den Menschen als die leibhaftige Mitte des Kosmos zeigt. In konzentrischen Kreisen ordnen sich die Weltsphären auf die Gestalt des Menschen zu, der seinerseits in das Weltenrad gespannt ist und die Kräfte des Universums in Bewegung hält. Auf geheimnisvolle Weise greift damit der äußere Aufbau der Natur in den Ablauf der Geschichte und das sittliche Schicksal des Menschen ein. Die Einheit dieser Schöpfungsordnung umfasst die Welt der Engel ebenso wie Pflanzen und Tiere; sie verknüpft das Sinnenleben mit dem Gnadenwirken und stellt den Menschen mit Leib und Seele, Welt und Kirche, Natur und Gnade in die verbindliche Verantwortung seiner „operatio“.

Die gleiche Perspektive des Visionssystems bieten die Briefe und Lieder, die den Ruf der „rheinischen Sibylle“ begründet haben und die sie zum „Orakel“ für Kaiser und Päpste, für den Klerus wie das Volk werden ließen. In einem Briefwechsel, dessen Echtheit durch jüngste Quellenanalysen gesichert ist, begegnen uns die Päpste Eugen III., Anastasius IV., Hadrian IV. und Alexander III., ferner die Erzbischöfe von Mainz, Trier, Köln und Salzburg, an bevorzugter Stelle auch Bernhard von Clairvaux. In einem Schreiben an Kaiser →Friedrich I. Barbarossa wird die Begegnung auf der Pfalz bei Ingelheim erwähnt; in weiteren Briefen wendet sich Hildegard energisch gegen die Papstpolitik Barbarossas. Briefpartner sind König Konrad III., König Heinrich II. von England, Bertha, Gräfin von Sulzbach und Kaiserin von Byzanz, sowie zahlreiche Bischöfe, Herzöge, Äbte, Äbtissinnen, Priester und Laien. Den visionären Duktus in poetischer Verdichtung tragen etwa 75 „Carmina“, die als „Symphonia harmoniae coelestium revelationum“ bezeichnet worden, sowie ein geistliches Singspiel, der „Ordo Virtutum“. Handschriftlich im Neumenstil überliefert sind auch die Kompositionen dieser Hymnen, Sequenzen und Responsorien, in ihren Motiven stark variiert, mit typisch weiten Intervallen und reicher Melismatik. Zum visionären Schrifttum rechnen weiterhin kleinere Lehrstücke wie die „Regulae S. Benedicti Explanatio“, eine „Explanatio Symboli S. Athanasii“, der „Liber expositionis quorundam Evangeliorum“, ferner zwei hagiographische Studien auf lokaler Tradition fußend, die „Vita S. Ruperti“ und die „Vita S. Disibodi“, sowie Fragmente einer Autobiographie, die in die „Lebensbeschreibung“ der Mönche Gottfried und Theoderich aufgegangen sind. Zu erwähnen ist schließlich eine nicht interpretierte „Lingua ignota“.

In das Jahrzehnt zwischen 1150-60 fallen die natur- und heilkundlichen Lehrschriften, die als „Physica“ und „Causae et curae“ ediert wurden, während sie in der handschriftlichen Fassung den Titel „Liber simplicis et compositae medicinae“ tragen. Vermutlich gehen beide Naturschriften auf eine Handschrift zurück, den „Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum“. Während die „Naturkunde“ im traditionellen Stil von „De natura rerum“ aufgebaut ist und eine Elementenlehre, eine Tier- und eine Pflanzenkunde bringt, lässt die „Heilkunde“ diesen systematischen Aufbau vermissen, was der einzig erhaltenen Kopenhagener Handschrift des 13. Jahrhunderts anzulasten ist, die mit zahlreichen Zwischentiteln, Umstellungen und Zusätzen versehen wurde. In beiden Naturschriften, vor allem aber in der Physiologie, der Pathologie und in einer naturalistisch artikulierten Sexuallehre, sind Mensch und Natur nach einem durchgehenden anthropologischen Korrelationsgesetz aufeinander zugeordnet, da „alles, was in der Satzung Gottes steht, einander Antwort gibt“.

Hildegards Weltbild behauptet bei aller Berührung mit frühscholastischen Traditionen und bei aller Bezogenheit zur reichhaltigen Kosmologie des 12. Jahrhunderts durchaus seine Sonderstellung. Abhängigkeiten zur Schule von Salerno oder zum Arabismus lassen sich nicht überzeugend nachweisen. Ebenso sind vermutete Relationen zur Schule von Chartres ohne Quellenbelege geblieben. Insbesondere zeigt Hildegards Bild der „viriditas“ als einer tragenden naturhaften Lebenskraft kaum Analogien mit dem Naturbegriff des Thierry von Chartres oder des Wilhelm von Conches und keinerlei Ähnlichkeit mit dem antikisierenden Naturgemälde des Bernardus Silvestris. Allenfalls finden sich Anklänge an den symbolistischen Weltbau des Rupert von Deutz, weniger hingegen an die allegorisierende Schematik eines Honorius Augustodunensis. Kurz vor dem Umbruch ins scholastische System steht diese Bildwelt noch ganz in der archaisch-sakramentalen Lebensordnung des frühen Abendlandes. Von hier aus will das Werk gedeutet werden. Eine kritische Edition liegt jedoch nicht vor. Die Interpretation des Gesamtwerkes steht noch aus.

Text: Schipperges, Heinrich, “Hildegard von Bingen” in: Neue Deutsche Biographie 9 (1972), S. 131-133 [Online-Version] (CC BY-NC-ND 3.0 DE)

Liber scivias
(„Wisse die Wege“)

In diesem um 1150 entstandenen Werk beschreibt Hildegard ihre religiösen Visionen. In der Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain existiert noch eine Abschrift des Originals.

Zu lesen unter dem Titel “Der Weg der Welt” bei Projekt Gutenberg

Physica
Liber simplicis medicinae

Zwischen 1150 und 1160 verfasste Hildegard dieses Werk, in dem sie die Heilkräfte der Natur beschreibt.

Liber vitae meritorum
(Der Mensch in der Verantwortung)

Dieses Werk befasst sich mit verschiedenen Aspekten des menschlichen Lebens und der Spiritualität. Es ist in Form eines Dialogs zwischen Hildegard und verschiedenen allegorischen Figuren, wie der “Anima” (Seele) und der “Caritas” (Nächstenliebe), verfasst.
In diesem Buch beschreibt Hildegard von Bingen die menschliche Natur, die Sünde und die Notwendigkeit der Buße. Sie diskutiert auch die Idee des Verdienstes und der Belohnung im Hinblick auf das Leben nach dem Tod. Das Werk ist stark von Hildegards mystischer Spiritualität geprägt und betont die Bedeutung von Demut, Reue und der Suche nach Gott.

Liber divinorum operum
(Welt und Mensch)

Das Werk konzentriert sich auf Hildegards Visionen und ihre theologischen Interpretationen. Darin beschreibt sie ihre mystischen Erfahrungen und offenbart ihre Visionen, die sie als göttliche Eingebungen ansah. Sie diskutiert die Natur der Schöpfung, das Verhältnis zwischen Gott und der Schöpfung sowie die Rolle des Menschen im göttlichen Plan.

Skulptur von Karlheinz Oswald (1998) vor der Abtei in Eibingen
Die katholische Pfarrkirche von Eibingen wurde nach Hildegard benannt.
Hildegardfigur von Franz Bernhard (1957) an der Pfarrkirche von Eibingen
Hildegardisschrein in der Pfarrkirche von Eibingen (1929)
Briefmarke Deutschland 1979
Briefmarke Deutschland 1998
Briefmarke Liechtenstein 1983
Briefmarke Liechtenstein 2023

Hildegard von Bingen
* 1098 in Bermersheim bei Alzey
† 17.9.1179 Kloster Rupertsberg bei Bingen
war eine bedeutende Theologin und Universalgelehrte. Sie betonte die Verbindung zwischen Natur und Spiritualität und leistete einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Beziehung zwischen Mensch, Gott und der natürlichen Welt.

Ruine des Kloster Disibodenberg

Als 10. Kind Gott geweiht, wird Hildegard der geistlichen Erziehung der Reklusin Jutta von Spanheim anvertraut. Auf dem Disibodenberg bei Bingen erhält die „inclusa“ Elementarunterricht in der „Regula Benedicti“, der Liturgik und einem Teil der „Artes liberales“. Um 1114 nimmt sie aus der Hand des Bischofs Otto von Bamberg den Schleier. Nach Juttas Tod wird Hildegard 1136 zur „magistra“ des Frauenkonvents gewählt. Zwischen 1147 und 1152 gründet sie ein Kloster auf dem Rupertsberg, das durch seine großzügige bauliche und hygienische Konzeption berühmt wurde (1632 durch die Schweden zerstört). 1158 läßt sich Hildegard durch EB Arnold von Mainz die Rechtsgrundlagen ihres Klosters sichern. Am 16.4.1163 stellt ihr Friedrich Barbarossa auf dem Hoftag zu Mainz einen Schutzbrief aus, in dem der Name „abbatissa“ erstmals urkundlich erwähnt ist. Auf dem gegenüberliegenden Rheinufer oberhalb Rüdesheim gründet Hildegard 1165 in einer leerstehenden Augustinerabtei ein Filialkloster, das 1802 säkularisiert wurde und heute Sitz der Sankt Hildegardis-Abtei zu Eibingen ist.

Im Jahre 1141 beginnt Hildegard, unter dem Eindruck visionärer Erlebnisse und mit Hilfe des Mönches Volmar und der Nonne Richardis von Stade ihre Schau von der Schöpfung und Erlösung der Welt (Sci vias) niederzuschreiben. 1147/48 lässt Papst Eugen III. durch eine Kommission auf dem Disibodenberg die Schrift prüfen, um auf der Trierer Synode ihren visionären Charakter zu bestätigen. Um die Jahrhundertmitte haben diese Visionen wie auch eine weitreichende Korrespondenz und zahlreiche Liedschöpfungen Hildegards Ruf einer „prophetissa teutonica“ begründet. Bereits in diesen frühen Schriften begegnet uns nicht nur das geschlossene Welt- und Menschenbild, sondern auch ein erstrangiges politisches Dokument, in welchem die Seherin ihre energische Zeitkritik vorträgt. Unmittelbar damit verknüpft sind die vier großen Predigtreisen, die in das Jahrzehnt zwischen 1160 und 1170 fallen und auf denen Hildegard im Stil der evangelischen Volkspredigt ihr weibisches Zeitalter (tempus muliebre) attackiert. Die Predigten richten sich ebenso gegen eine zwiespältige Diplomatie wie gegen den verrotteten Klerus, vor allem aber gegen die aufkommende Häresie der Katharer. Die 1. Missionsreise führt Hildegard um 1160 nach Mainz, Würzburg, Kitzingen, Ebrach und Bamberg, eine zweite nach Trier, Metz und Lothringen. Zwischen 1161 und 1163 fällt eine Rheinfahrt über Boppard und Andernach nach Köln und Werden an der Ruhr. Auf ihrer letzten Predigtfahrt bereist Hildegard um 1170 Maulbronn, Hirsau, Kirchheim unter Teck und Zwiefalten. Inhalt und Echo dieser Missionsreisen, die zu Pferd, per Schiff oder zu Fuß durchgeführt wurden, spiegeln sich in eigenen Sendschreiben sowie im Briefwechsel; sie zeugen vom Ansehen der Prophetin wie auch vom Mut ihres öffentlichen Auftretens. Noch im hohen Alter kämpft Hildegard gegen das 1179 von den Mainzer Prälaten erlassene Interdikt und verschafft ihrem Kloster eine Ehrenrettung. Kurz nach Aufhebung des Interdiktes verstarb Hildegard auf dem Rupertsberg. Seit Beginn des 15. Jahrhunderts wird sie als Heilige in kirchlichen Kalendarien und Martyrologien aufgenommen, obwohl das Kanonisationsverfahren, eingeleitet unter den Päpsten Gregor IX. und Innozenz IV., zu keinem Abschluss kam.
(Fortsetzung des Textes unter “Werke”)

Text: Schipperges, Heinrich, “Hildegard von Bingen” in: Neue Deutsche Biographie 9 (1972), S. 131-133 [Online-Version] (CC BY-NC-ND 3.0 DE)

Das ungewöhnlich breit angelegte Werk Hildegards blieb für Jahrhunderte ohne Wirkung. Zwar weist das „Verfasserlexikon“ der deutschen Literatur des Mittelalters auf die „zahlreichen Sparten kulturgeschichtlicher Gebiete“ hin, die durch Hildegard erschlossen wurden und die uns einen vielseitigen Einblick in das religiöse, politische, wissenschaftliche, ärztliche und gesellschaftliche Denken und Leben der Zeit geben könnten. Der Universalismus ihres Denkens und Handelns aber ist bereits im 13. Jahrhundert nicht mehr zur Geltung gekommen. Die umfassende symbolistische Weltschau Hildegards wurde durch den neuplatonisch-arabistischen Aristotelismus überflutet; ihre theologisch wie naturphilosophisch unterbaute Anthropologie konnte sich nicht gegen den „neuen Aristoteles“ behaupten, wie er an den Schulen von Salerno, Chartres und Toledo assimiliert wurde, um in der thomistischen Scholastik kanonisiert zu werden. Das Gesamtwerk war bald schon auf das vom Prior Gebeno von Eberbach 1220 kompilierte pseudo-prophetische „Speculum futurorum temporum“ geschrumpft und durch die einseitige Beurteilung in den „Opera historica“ (1601) des Abtes Trithemius in Misskredit geraten. Immerhin finden wir unter den Frühdrucken sowohl Hildegards „Scivias“ (1513) als auch die „Physica“ (1533), die auch der Ausgabe Migne, PL 197 (1855) zugrundeliegen. In den letzten 50 Jahren erst zeigt sich eine stärkere Hinwendung auf die Quellen und damit erstmalig auf die weitgespannte und reichgegliederte Thematik des Gesamtschrifttums.

Im Mittelpunkt der Werke Hildegards steht zweifellos die visionäre Trilogie. 1141-51 schrieb sie am „Liber Scivias“, einer Glaubenslehre, die Kosmologie und Anthropologie aufs engste mit der Theologie verknüpft. Zwischen 1158 und 1163 entstand der „Liber vitae meritorum“, Wechselgespräche der Tugenden und Laster nach Art der traditionellen Psychomachien, vorgestellt unter universalem Aspekt und mit originellem psychologischen Tiefblick. In das Jahrzehnt 1163-73 fallen die grandiosen Kosmosvisionen des „Liber divinorum operum“, der in der Genter Handschrift des 12. Jahrhunderts den Titel „De operatione Dei“ trägt. Das „Buch der Gotteswerke“ wird mit Recht als Hildegards zentrale schöpferische Leistung angesehen. In zehn Visionen entfaltet sich eine kosmologisch unterbaute Heilsgeschichte von der Genesis bis zur Apokalypse, wobei die Deutung des Johannes-Prologs die verbindliche Sicht auf den Menschen als die leibhaftige Mitte des Kosmos zeigt. In konzentrischen Kreisen ordnen sich die Weltsphären auf die Gestalt des Menschen zu, der seinerseits in das Weltenrad gespannt ist und die Kräfte des Universums in Bewegung hält. Auf geheimnisvolle Weise greift damit der äußere Aufbau der Natur in den Ablauf der Geschichte und das sittliche Schicksal des Menschen ein. Die Einheit dieser Schöpfungsordnung umfasst die Welt der Engel ebenso wie Pflanzen und Tiere; sie verknüpft das Sinnenleben mit dem Gnadenwirken und stellt den Menschen mit Leib und Seele, Welt und Kirche, Natur und Gnade in die verbindliche Verantwortung seiner „operatio“.

Die gleiche Perspektive des Visionssystems bieten die Briefe und Lieder, die den Ruf der „rheinischen Sibylle“ begründet haben und die sie zum „Orakel“ für Kaiser und Päpste, für den Klerus wie das Volk werden ließen. In einem Briefwechsel, dessen Echtheit durch jüngste Quellenanalysen gesichert ist, begegnen uns die Päpste Eugen III., Anastasius IV., Hadrian IV. und Alexander III., ferner die Erzbischöfe von Mainz, Trier, Köln und Salzburg, an bevorzugter Stelle auch Bernhard von Clairvaux. In einem Schreiben an Kaiser →Friedrich I. Barbarossa wird die Begegnung auf der Pfalz bei Ingelheim erwähnt; in weiteren Briefen wendet sich Hildegard energisch gegen die Papstpolitik Barbarossas. Briefpartner sind König Konrad III., König Heinrich II. von England, Bertha, Gräfin von Sulzbach und Kaiserin von Byzanz, sowie zahlreiche Bischöfe, Herzöge, Äbte, Äbtissinnen, Priester und Laien. Den visionären Duktus in poetischer Verdichtung tragen etwa 75 „Carmina“, die als „Symphonia harmoniae coelestium revelationum“ bezeichnet worden, sowie ein geistliches Singspiel, der „Ordo Virtutum“. Handschriftlich im Neumenstil überliefert sind auch die Kompositionen dieser Hymnen, Sequenzen und Responsorien, in ihren Motiven stark variiert, mit typisch weiten Intervallen und reicher Melismatik. Zum visionären Schrifttum rechnen weiterhin kleinere Lehrstücke wie die „Regulae S. Benedicti Explanatio“, eine „Explanatio Symboli S. Athanasii“, der „Liber expositionis quorundam Evangeliorum“, ferner zwei hagiographische Studien auf lokaler Tradition fußend, die „Vita S. Ruperti“ und die „Vita S. Disibodi“, sowie Fragmente einer Autobiographie, die in die „Lebensbeschreibung“ der Mönche Gottfried und Theoderich aufgegangen sind. Zu erwähnen ist schließlich eine nicht interpretierte „Lingua ignota“.

In das Jahrzehnt zwischen 1150-60 fallen die natur- und heilkundlichen Lehrschriften, die als „Physica“ und „Causae et curae“ ediert wurden, während sie in der handschriftlichen Fassung den Titel „Liber simplicis et compositae medicinae“ tragen. Vermutlich gehen beide Naturschriften auf eine Handschrift zurück, den „Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum“. Während die „Naturkunde“ im traditionellen Stil von „De natura rerum“ aufgebaut ist und eine Elementenlehre, eine Tier- und eine Pflanzenkunde bringt, lässt die „Heilkunde“ diesen systematischen Aufbau vermissen, was der einzig erhaltenen Kopenhagener Handschrift des 13. Jahrhunderts anzulasten ist, die mit zahlreichen Zwischentiteln, Umstellungen und Zusätzen versehen wurde. In beiden Naturschriften, vor allem aber in der Physiologie, der Pathologie und in einer naturalistisch artikulierten Sexuallehre, sind Mensch und Natur nach einem durchgehenden anthropologischen Korrelationsgesetz aufeinander zugeordnet, da „alles, was in der Satzung Gottes steht, einander Antwort gibt“.

Hildegards Weltbild behauptet bei aller Berührung mit frühscholastischen Traditionen und bei aller Bezogenheit zur reichhaltigen Kosmologie des 12. Jahrhunderts durchaus seine Sonderstellung. Abhängigkeiten zur Schule von Salerno oder zum Arabismus lassen sich nicht überzeugend nachweisen. Ebenso sind vermutete Relationen zur Schule von Chartres ohne Quellenbelege geblieben. Insbesondere zeigt Hildegards Bild der „viriditas“ als einer tragenden naturhaften Lebenskraft kaum Analogien mit dem Naturbegriff des Thierry von Chartres oder des Wilhelm von Conches und keinerlei Ähnlichkeit mit dem antikisierenden Naturgemälde des Bernardus Silvestris. Allenfalls finden sich Anklänge an den symbolistischen Weltbau des Rupert von Deutz, weniger hingegen an die allegorisierende Schematik eines Honorius Augustodunensis. Kurz vor dem Umbruch ins scholastische System steht diese Bildwelt noch ganz in der archaisch-sakramentalen Lebensordnung des frühen Abendlandes. Von hier aus will das Werk gedeutet werden. Eine kritische Edition liegt jedoch nicht vor. Die Interpretation des Gesamtwerkes steht noch aus.

Text: Schipperges, Heinrich, “Hildegard von Bingen” in: Neue Deutsche Biographie 9 (1972), S. 131-133 [Online-Version] (CC BY-NC-ND 3.0 DE)

Liber scivias
(„Wisse die Wege“)

In diesem um 1150 entstandenen Werk beschreibt Hildegard ihre religiösen Visionen. In der Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain existiert noch eine Abschrift des Originals.

Zu lesen unter dem Titel “Der Weg der Welt” bei Projekt Gutenberg

Physica
Liber simplicis medicinae

Zwischen 1150 und 1160 verfasste Hildegard dieses Werk, in dem sie die Heilkräfte der Natur beschreibt.

Liber vitae meritorum
(Der Mensch in der Verantwortung)

Dieses Werk befasst sich mit verschiedenen Aspekten des menschlichen Lebens und der Spiritualität. Es ist in Form eines Dialogs zwischen Hildegard und verschiedenen allegorischen Figuren, wie der “Anima” (Seele) und der “Caritas” (Nächstenliebe), verfasst.
In diesem Buch beschreibt Hildegard von Bingen die menschliche Natur, die Sünde und die Notwendigkeit der Buße. Sie diskutiert auch die Idee des Verdienstes und der Belohnung im Hinblick auf das Leben nach dem Tod. Das Werk ist stark von Hildegards mystischer Spiritualität geprägt und betont die Bedeutung von Demut, Reue und der Suche nach Gott.

Liber divinorum operum
(Welt und Mensch)

Das Werk konzentriert sich auf Hildegards Visionen und ihre theologischen Interpretationen. Darin beschreibt sie ihre mystischen Erfahrungen und offenbart ihre Visionen, die sie als göttliche Eingebungen ansah. Sie diskutiert die Natur der Schöpfung, das Verhältnis zwischen Gott und der Schöpfung sowie die Rolle des Menschen im göttlichen Plan.

Skulptur von Karlheinz Oswald (1998) vor der Abtei in Eibingen
Die katholische Pfarrkirche von Eibingen wurde nach Hildegard benannt.
Hildegardfigur von Franz Bernhard (1957) an der Pfarrkirche von Eibingen
Hildegardisschrein in der Pfarrkirche von Eibingen (1929)
Briefmarke Deutschland 1979
Briefmarke Deutschland 1998
Briefmarke Liechtenstein 1983
Briefmarke Liechtenstein 2023

Bildnachweis
Hintergrundbild: Ruine Kloster Rupertsberg – public domain
Wandbehang Hildegard von Bingen: Urmelbeauftragter (CC BY-SA 3.0 DEED)
Ruine des Kloster Disibodenberg: Saharadesertfox (CC BY-SA 3.0 DEED)
Hildegardfigur von Franz Bernhard: Haffitt (CC BY-SA 3.0 DEED)
Pfarrkirche Eibingen: Marion Halft (CC BY-SA 3.0 DEED)
Skulptur von Karlheinz Oswald: Ἀστερίσκος (CC BY-SA 4.0 DEED)
alle anderen Abbildungen: public domain

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