Sonderausstellung
Kleines Land – große Denker

Bereich 2

Erfurt:
Von der Scholastik zum Humanismus

Der Humanismus entwickelte sich nicht im luftleeren Raum, sondern auf dem Boden der spätmittelalterlichen Scholastik, die im 15. Jahrhundert an der Universität Erfurt eine prägende Rolle spielte. Der Humanismus konnte nur dort aufblühen, wo zuvor ein hohes Niveau scholastischer Bildung erreicht worden war.

Wilhelm von Ockham (Glasfenster in All Saints‘ Church in Ockham)

Die Spätscholastik (ca. 1350–1500) war die letzte Phase der mittelalterlichen Gelehrsamkeit. Sie beruhte auf Aristotelischer Logik und Dialektik, systematischer Theologie, die mit logischen Begriffen operierte, und kommentierender Textarbeit.
In Erfurt war die Universität ein Zentrum dieser scholastischen Bildung. Hier wirkten Theologen, Juristen und Philosophen, die in der Tradition des Nominalismus standen, mit Wilhelm von Ockham als intellektuellem Vorbild. Diese Denkrichtung betonte stärker die empirische Welt und die sprachliche Logik menschlicher Erkenntnis – und bereitete so eine gewisse methodische Offenheit für neue Formen des Denkens vor.
Drei Gelehrte ragen aus dieser spätmittelalterlichen Geisteswelt hervor, von denen leider keine zeitgenössischen Abbildungen überliefert sind.

Gabriel Biel (um 1420-1495), Professor in Tübingen, hatte in Erfurt studiert und stand in enger Verbindung zur Erfurter Gelehrtenwelt. Er gilt als der bedeutendste Vertreter des Nominalismus im deutschen Raum und als Schlussgestalt der mittelalterlichen Scholastik. In seinen Werken zeigt sich das Bestreben, Theologie mit Rationalität und Erfahrung zu verbinden. Diese Verbindung von scholastischer Methode und moralisch-praktischer Ausrichtung war für die Erfurter Gelehrten vorbildhaft. So wurde Biel zu einem Bindeglied zwischen Scholastik, Humanismus und Reformation, denn auch Luthers Lehrer in Erfurt und Wittenberg waren Biels Schüler oder standen unter dessen Einfluss.

Jodocus Trutfetter (1460–1519) war Professor der Philosophie und Theologie an der Universität Erfurt. Für Martin Luther war er einer seiner wichtigsten Lehrer.
Als entschiedener Vertreter des Nominalismus und klarer Logiker zeigten seine Schriften eine präzise systematische Denkweise, Streben nach begrifflicher Klarheit und starke Orientierung auf die pädagogische Komponente. Trutfetter vermittelte den Studenten eine methodische Schulung im Denken, Argumentieren und Disputieren, die die humanistische Generation übernahm, aber in neue Formen (philologisch, literarisch, dialogisch) verwandelte.

Bartholomäus Arnoldi von Usingen (um 1465–1532) war ebenfalls Professor an der Universität Erfurt und gehörte zur Theologenfakultät, wo auch Luther studierte. Er stand in der Nachfolge Trutfetters, war aber stärker theologisch orientiert. In seinen Vorlesungen verband er scholastische Formen mit ethisch-frömmigkeitsbezogenen Inhalten. Er erkannte die Grenzen der alten Methode, ohne sie gänzlich zu verwerfen, und suchte nach einer Vermittlung zwischen scholastischem Denken und biblischer Erneuerung.
Nach 1517 sympathisierte er mit Luther, zog sich aber bald ins Kloster zurück – ein Zeichen der inneren Spannung seiner Generation: Er stand zwischen der alten und der neuen Zeit.

Die Humanisten Erfurts sahen sich als kritische Erben der Scholastik. Sie übernahmen deren methodische Strenge, lehnten aber den formelhaften Stil und die begriffsverliebte Theologie ab. Diese Spannung wird besonders deutlich in den „Dunkelmännerbriefen“ (näheres siehe Mittelteil). Dort wird die scholastische Gelehrsamkeit verspottet; die Humanisten karikieren die scholastischen Theologen als Dunkelmänner, die Latein verunstalten und geistig im Mittelalter verharren. Diese Satire wäre jedoch ohne die genaue Kenntnis scholastischer Denkweise gar nicht möglich gewesen. Man kann daher sagen, die Spätscholastik war der intellektuelle Mutterboden, aus dem sich der Humanismus entwickelte, gegen den er sich aber zugleich profilierte.

Der Humanismus war im ausgehenden Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit eine Bewegung, die sich auf die Wiederentdeckung der Antike konzentrierte, auf griechisch-römische Literatur, Philologie, Rhetorik. Sie rückte den Menschen, dessen Bildung und sein sprachliches, literarisches Vermögen in den Mittelpunkt und prägte die Epoche der Renaissance in Europa.

Nicolaus Marschalk, zeitgenössischer Holzstich (Stadtarchiv Erfurt)

Die Stadt Erfurt spielte hierbei eine zentrale Rolle. Ihre Universität war eine der ältesten in Deutschland und bot im späten 15. Jahrhundert Grundlagen dafür, dass humanistische Denkweisen Fuß fassten. Schon früh wirkten in Erfurt Humanisten wie Nikolaus Marschalk (etwa 1492–1502 in Erfurt tätig) und damit begann die Herausbildung von humanistisch gebildeten Lehrern und Studenten. So wurde in Erfurt ein fruchtbarer Boden für die Entstehung eines Humanisten-Kreises bereitet, einer mehr oder weniger losen Gemeinschaft von Gelehrten, Studenten und Dichtern, die sich literarisch, biographisch und oft auch sozial verbanden.

Als spirituelles Zentrum und intellektueller Kopf des Kreises gilt Conrad Mutianus Rufus (1470–1526), der zu den bedeutendsten Geistesgrößen der deutschen Renaissance zählt. Er hatte in Erfurt studiert und ließ sich später in Gotha nieder. Dort gründete er einen literarischen Zirkel, der in engem Austausch mit den Erfurter Humanisten stand.
Junge Gelehrte, die sich von den veralteten Lehrmethoden der Scholastik abwandten, fanden in Mutians Philosophie und in der gemeinsamen Lektüre klassischer Autoren wie Cicero, Platon und Lukian eine neue geistige Heimat. Ihr hauptsächlicher Treffpunkt war das Haus „Engelsburg“ in der Allerheiligenstraße in Erfurt. Dort versammelte sich der Kreis zeitweise von etwa 1514 bis 1526.

Eobanus Hessus, Holzschnitt von Albrecht Dürer

Es war das Wohnhaus des Helius Eobanus Hessus (1488-1540), einem der bedeutendsten Poeten seiner Zeit. Diese humanistischen Gelehrten waren nicht nur Dichter und Philologen, sondern auch kritische Denker, die durch ihre Arbeit die gesellschaftlichen und kirchlichen Verhältnisse hinterfragten. Der Höhepunkt ihrer kritischen Tätigkeit waren die sogenannten „Dunkelmännerbriefe“ (Epistolae obscurorum virorum), die um 1515/1517 veröffentlicht wurden. Diese satirische Briefsammlung, an deren Entstehung die Erfurter Humanisten maßgeblich beteiligt waren, verspottete die Borniertheit, Ignoranz und den Dogmatismus der scholastischen Theologen, insbesondere der Kölner Dominikaner. Die Dunkelmännerbriefe wurden zu einem europaweiten Bestseller und galten als schärfste Waffe des Humanismus gegen seine konservativen Gegner. Sie schufen ein öffentliches Klima, das bereit war, theologische Autoritäten infrage zu stellen.

Humanismus und Reformation waren zwei bedeutende europäische Bewegungen des 15. und 16. Jahrhunderts, die das mittelalterliche Weltbild hinterfragten und maßgeblich den Übergang in die Neuzeit prägten.
Während der Humanismus eine philosophische Bildungsbewegung war, die sich auf den Menschen konzentrierte, war die Reformation eine religiöse Bewegung, die zur Kirchenspaltung führte. 

Die Wegbereiter der Reformation, insbesondere Martin Luther waren in frühen Jahren mit humanistischen Ideen konfrontiert worden und standen diesen sehr nahe. Die Universität Erfurt galt zu Luthers Studienzeit als eine Hochburg des Humanismus in Deutschland. Dort lehrten Professoren wie Jodocus Trutfetter, die ihren Schülern die Prinzipien der humanistischen Bewegung vermittelten.
Der humanistischen Methode folgend, analysierte Luther die Bibel kritisch und verwarf theologische Lehren, die nicht in der Urschrift begründet waren. Humanistische Rhetorik und lateinische Sprachkenntnisse halfen ihm, seine theologischen Argumente präzise zu formulieren. Nicht zuletzt motivierte ihn die humanistische Forderung nach Bildung für das Volk, die Bibel ins Deutsche zu übersetzen.

Die Humanisten des Erfurter Kreises teilten Luthers Forderung nach einer Rückkehr zur Bibel und seine Kritik an der kirchlichen Praxis, insbesondere am Ablasshandel, und sahen in Luthers Thesen die konsequente Fortführung ihrer eigenen Kritik am scholastischen System und den kirchlichen Missständen.
Mit der Konsolidierung der Reformation ab 1517 zerfiel der Kreis jedoch. Die gemeinsame intellektuelle Basis wich der Notwendigkeit, politisch und theologisch Stellung zu beziehen. Während einige Humanisten, darunter Eobanus Hessus, entschieden zu Luther wechselten und die Reformation aktiv unterstützten, hielten andere, wie Mutianus Rufus, eine gewisse Distanz oder zogen sich enttäuscht zurück, da ihnen der neue religiöse Eifer zu radikal erschien.

Luther selbst distanzierte sich mehr und mehr vom Humanismus, als er feststellte, dass er keine Antwort auf seine tiefen spirituellen Fragen bot. Er entwickelte den Ansatz weiter, indem er den Menschen durch die Gnade Gottes in den Vordergrund stellte. Zum endgültigen Bruch kam es, als er sich vehement gegen Erasmus von Rotterdam stellte, den bedeutendsten humanistischen Gelehrten dieser Zeit. (siehe dazu unser Exponat „Erasmus vs. Luther: Der Wille ist frei – oder nicht?“)

Vom 15. zum 16. Jahrhundert war Erfurt ein Schmelztiegel für Ideen der frühen Neuzeit in Deutschland. Der Erfurter Humanistenkreis leistete Pionierarbeit bei der Durchsetzung humanistischer Bildung und der Verbreitung kritischen Geistes. Durch die Zuspitzung der Kritik an kirchlichen und universitären Strukturen bereitete er den Boden für die weitreichenden theologischen und gesellschaftlichen Umwälzungen der Reformation. Sein Vermächtnis liegt in der erfolgreichen Transformation der deutschen Geisteswelt von der mittelalterlichen Scholastik hin zur modernen Philosophie und kritischen Theologie.
Büste von Helga Viebig-Kruck in Tambach-Dietharz

… der bedeutendste Vertreter der deutschen Mystik
und ihr tiefgründigster und radikalster Denker.
Erich Fromm

Lange vor Gründung der Universität Erfurt verband sich das Leben eines großen Denkers mit dieser Stadt.
Eckhart von Hochheim wurde um das Jahr 1260 in der Nähe von Gotha, wahrscheinlich im heutigen Tambach-Dietharz geboren.
Über seine frühe Lebensgeschichte ist nicht viel bekannt. Er kam als Novize in das Erfurter Dominikaner-Kloster, wo er seine erste Ausbildung erhielt, trat in den Orden ein und studierte an den Universitäten von Köln und Paris.

Würdigung für Meister Eckhart am Portal der Predigerkirche in Erfurt

Er entwickelte sich zu einem herausragenden Theologen, weshalb man ihn Meister Eckhart nannte. Er wurde schließlich zum Prior des Dominikaner-Klosters in Erfurt ernannt, lehrte an den Universitäten von Paris und Straßburg und wurde für seine klaren und tiefgründigen Predigten bekannt. Seine Lehren und Schriften basierten auf einer Kombination aus theologischem Denken und mystischer Erfahrung.

Eckhart entwickelte eine einzigartige philosophische und theologische Lehre, die stark von neuplatonischen und mystischen Einflüssen geprägt war. Er betonte die Bedeutung der direkten Erfahrung Gottes und lehrte, dass die Seele in der Lage ist, sich mit dem Göttlichen zu vereinen. Seine Lehren waren jedoch nicht frei von Kontroversen. Einige seiner Ideen wurden von der Kirche als ketzerisch angesehen, und er geriet in den Verdacht, pantheistische Ansichten zu vertreten. Im Jahr 1326 wurde er aufgrund von Vorwürfen der Häresie vor das päpstliche Inquisitionsgericht in Köln zitiert und schließlich verurteilt.

Eckhart starb wahrscheinlich um das Jahr 1328, kurz nach dem Prozess. Obwohl seine Schriften nach seinem Tod zunächst verboten wurden, hatten sie einen bedeutenden Einfluss auf die deutsche Mystik und die Entwicklung der deutschen Philosophie. Seine Werke wurden im Laufe der Jahrhunderte wiederentdeckt und seine Ideen haben bis heute eine anhaltende Wirkung auf philosophische und spirituelle Denkweisen.

siehe auch das Exponat zu Meister Eckhart in unserer Ruhmeshalle

Meister Eckhart
eine Vorgeschichte

Die Universität Erfurt, gegründet im Jahr 1392, nimmt einen besonderen Platz in der deutschen Hochschulgeschichte ein. Berücksichtigt man, dass sich schon vor der offiziellen Gründung, nämlich bereits ab dem 12. Jahrhundert, ein ausgeprägter Lehrbetrieb in Erfurt etablierte, kann sie als älteste deutsche Universität angesehen werden.
Ihr Aufstieg begann rasch. Sie profitierte von der zentralen Lage Erfurts und der starken Unterstützung ihrer wohlhabenden Bürgerschaft, die maßgeblich die Erteilung des Gründungsprivilegs durch Papst Urban VI. im Jahr 1389 erwirkte.

Ein Wandgemälde von Peter Janssen im Erfurter Rathaus zeigt Vertreter der vier Fakultäten. Links Martin Luther für die theologische und Eobanus Hessus für die philosophische Fakultät.

Schon Mitte des 15. Jahrhunderts hatte sich die Universität zu einer der größten und angesehensten Hochschulen Mitteleuropas entwickelt. Mit ihren Immatrikulationszahlen übertraf sie zeitweise alle anderen deutschen Universitäten.
Auf Grund dieses Erfolgs wurde Erfurt ein Zentrum des Humanismus in Deutschland. Gelehrte wie Nikolaus Marschalk und Mutianus Rufus prägten die Hochschule, die an der Schwelle zur Neuzeit eine große geistige Ausstrahlungskraft entfaltete.

Der langsame Niedergang der Universität setzte bereits im 16. Jahrhundert ein. Die Reformation und die darauf folgenden konfessionellen Auseinandersetzungen führten zu internen Konflikten und zunehmendem Bedeutungsverlust. Die Wirren des Dreißigjährigen Krieges brachten im 17. Jahrhundert schwere Schäden und eine zeitweise Stagnation des Lehrbetriebs mit sich. Mit der Übernahme als Kurmainzische Landesuniversität im Jahr 1664 verlor sie an Eigenständigkeit und litt zunehmend unter einer geistigen Erstarrung und dem wirtschaftlichen Niedergang der Stadt. Alle Reformbemühungen im 18. Jahrhundert, wie jene, die auf ein Gutachten von Christoph Martin Wieland zurückgingen, scheiterten an fehlenden finanziellen Mitteln und beharrlichen Widerständen, was den kontinuierlichen Rückgang der Studentenzahlen zur Folge hatte. Im Jahr 1811 gab es zwar noch 35 Professoren in Erfurt, aber nur 23 Studenten. Schließlich besiegelten die politischen Umwälzungen der napoleonischen Ära und der Übergang Erfurts an Preußen das Ende. Da Preußen bereits eine leistungsstarke Universität in Halle besaß, wurde die alte Universität Erfurt am 12. November 1816 auf Weisung König Friedrich Wilhelms III. endgültig geschlossen. Erst 1994 wurde die neue Universität Erfurt wiedereröffnet.

Aufstieg und Niedergang der Universität Erfurt

Sonderausstellung
Kleines Land – große Denker

Bereich 3

Weimar:
Das Viergestirn der Klassik

Porträt von Ferdinand Jagemann (1805)

Christoph Martin Wieland (1733-1813), der Älteste im Weimarer Viergestirn, war ein wichtiger Repräsentant der Aufklärung; seine Werke stehen für die Ideale der Vernunft, der Toleranz und der kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und politischen Fragen. Er äußerte sich kritisch über religiöse Dogmen und veröffentlichte zentrale Abhandlungen über den freien Gebrauch der Vernunft in Fragen des Glaubens.

Wieland kam 1772 als Hauslehrer des Prinzen Carl August nach Weimar, nachdem er zuvor als Professor für Philosophie an der Universität Erfurt wirkte (siehe Bereich 2 dieser Ausstellung). Nach anfänglichen Anfeindungen durch Vertreter des Sturm und Drang, gewann er großes Ansehen. Als quasi Kollege von Goethe am Weimarer Hof traf er oft mit diesem zusammen. Beide wirkten auch daran mit, dass Herder zum Generalsuperintendenten ernannt wurde. Auch mit Schiller gab es einen regen Austausch durch gemeinsame Treffen und gegenseitige Wertschätzung.

Wieland beschäftigte sich direkt mit der Frage „Was ist Aufklärung?“ und sah deren Wesen in der Freiheit des Denkens und der Presse, wodurch das „Licht des Geistes“ die Erkenntnis des Wahren und Falschen, des Guten und Bösen betrifft. Er verstand Aufklärung als Beseitigung von intellektuellem Dunkel und vorrationaler, auf Unwissenheit und Aberglauben beruhender Welterklärung.

Wielands philosophische Leistung manifestiert sich vor allem in seiner literarischen Arbeit. Er hatte die Fähigkeit, komplexe philosophische Ideen auf elegante und zugängliche Weise zu vermitteln. In seinen Werken spielte die Verbindung von Unterhaltung und moralischer Erziehung eine zentrale Rolle.
Mit der „Geschichte des Agathon“ schuf er einen Prototyp des modernen deutschen Bildungs- und Erziehungsromans, der tiefe Einblicke in die menschliche Natur und Ethik bietet und spätere Autoren wie Goethe (Wilhelm Meister) beeinflusste.
In Werken wie „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“ thematisiert er die Pluralität der Perspektiven als Bedingung der Welterfassung und als ethische Maxime der Kommunikationsgemeinschaft.

Wieland war ein äußerst populärer und einflussreicher Autor, der seinem Zeitalter eine entschiedene Richtung gab. Die Frühromantiker sahen in ihm jedoch die Verkörperung eines vergangenen Zeitalters und versuchten, seine Reputation systematisch zu zerstören. Diese spätere Kritik führte dazu, dass Wielands Nachruhm im Vergleich zu seinen Zeitgenossen Goethe, Schiller und Herder im 19. Jahrhundert verblasste, was jedoch seine historischen Verdienste nicht schmälert.

Gemälde von Joseph Karl Stieler (1828)

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) war kein systematischer Philosoph im traditionellen Sinne, seine Werke sind aber von tiefgreifenden philosophischen Betrachtungen durchzogen.

Das Leben des gebürtigen Frankfurters ist eng mit Thüringen verbunden. Schon im Alter von 26 Jahren kommt er auf Einladung von Herzog Carl August nach Weimar, wo er seinen Lebensmittelpunkt findet. Er wird Minister und Geheimer Rat am herzoglichen Hof.

Philosophisch bedeutsam sind Goethes Ansätze in den Naturwissenschaften, besonders zur Morphologie (Lehre von der Gestalt) und zur Farbenlehre. Er suchte nach dem „Urphänomen“ oder „Typus“ (z. B. die Urpflanze), ein gedankliches Urbild, das den Bauplan und die Entwicklungsgesetze aller Einzelerscheinungen einer Gattung widerspiegelt. Die Metamorphose ist für ihn ein zentrales Prinzip der lebendigen Natur, das ein kontinuierliches Werden und Verändern von der einfachen zur komplexen Gestalt beschreibt. Goethe forderte eine ganzheitliche Betrachtung der Natur, die das Einzelne immer im Zusammenhang mit dem Ganzen sieht.

In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe.
J. W. Goethe „Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt“ (1792)

Goethe hatte ein gespaltenes Verhältnis zur Philosophie. Er war stark beeindruckt von der Ethik Spinozas, konnte aber mit der universitären Philosophie nicht viel anfangen.

Von der Philosophie habe ich mich selbst immer frei erhalten; der Standpunkt des gesunden Menschenverstandes war auch der meinige.
(Gespräch mit Eckermann, 1829)

Insbesondere die Systemdenker waren ihm suspekt. So schrieb er 1793 an Voigt:

Mit der Kantischen Lehre wird es gehen wie mit Modefabrikwaren , die ersten werden am teuersten bezahlt, nachher macht man sie überall nach und sie sind leichter zu kaufen.

Mit Hegel, den er mehrfach traf, war es ähnlich. An Kanzler v. Müller schrieb Goethe 1827:

Ich mag nichts von der Hegelschen Philosophie wissen, wiewohl mir Hegel selbst ziemlich zusagt.

In seinen literarischen Werken behandelt Goethe grundlegende Fragen der menschlichen Existenz, wie Liebe, Ehrgeiz und die Suche nach dem Sinn des Lebens, die Leser über Generationen hinweg ansprechen.
Die Figur Faust verkörpert das unaufhörliche Streben nach ultimativem Wissen, Erkenntnis und Sinn – ein zentrales ethisch-existentielles Thema. Goethe ermutigte zur Selbstbestimmung und dazu, den eigenen Weg zu gehen und durch Handeln einen Sinn zu finden.
Goethe strebte nach einer Harmonie zwischen Verstand und Gefühl – ein Ideal, das die Weimarer Klassik prägte. Er erkannte die Gefühle als wichtige Triebfedern des menschlichen Lebens an.

Gemälde von Anton Graff (1785)

Johann Gottfried Herder (1744-1803) gilt als eine Schlüsselgestalt an der Schwelle von der Aufklärung zur Weimarer Klassik und zur Romantik. Als Schüler und später Kritiker von Immanuel Kant lieferte Herder einen bedeutenden Beitrag zur philosophischen Debatte seiner Zeit. Mit seiner „Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft“ (1799) versuchte er, die kantische Transzendental-Philosophie zu korrigieren. Er lehnte deren strenge Trennung von Sinnlichkeit und Verstand ab und betonte die ganzheitliche Natur der menschlichen Erkenntnis, die eng an die Sprache gebunden ist.

Der aus Ostpreußen stammende Herder kam 1776 nach Weimar, wo er durch Goethes Vermittlung von Herzog Karl August zum Generalsuperintendenten berufen wurde. Nach anfangs freundschaftlichen Beziehungen kühlte sich das Verhältnis zu Goethe ab, sowohl weil materielle Erwartungen sich nicht erfüllten als auch wegen unterschiedlicher Überzeugungen.

Herders Hauptwerk, die „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784–1791), bildet den Kern seiner Geschichtsphilosophie. Im Gegensatz zum statischen Denken der frühen Aufklärung fasste Herder die Menschheitsgeschichte als einen organischen Prozess auf, bei dem jede Epoche und jede Kultur ihren eigenen Wert und ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten besitzt.

Herder-Denkmal in Weimar
(Ludwig Schaller 1848)

Herder sah den „einzigen Daseinszweck“ des Menschen in der Bildung der Humanität – der Verwirklichung menschlicher Vernunft, Güte und Toleranz. Die Geschichte ist für ihn ein Fortschrittsprozess hin zu diesem Ideal.
Er betonte die Gleichberechtigung und Legitimität aller Kulturen und trat gegen die Überhebung der europäischen Kultur auf. Dies begründete eine Form des historischen Relativismus.

Herder lieferte einen der ersten umfassenden philosophischen Entwürfe zur Sprache. In seiner „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ (1772) stellte er fest, dass Sprache nicht göttlichen Ursprungs sei, sondern vom Menschen selbst erfunden und geschaffen wurde. Er erkannte den engen Zusammenhang zwischen Sprache und kultureller Identität eines Volkes. Sprache ist demnach nicht nur ein Verständigungsmittel, sondern formt das Denken und die „Seele“ eines Volkes. Indem er das Interesse an der eigenen Sprache, Geschichte und Kultur weckte, wurde Herder zu einem wichtigen Vordenker des modernen Nationalgedankens in Deutschland.

Gemälde von Anton Graff (1791)

Während Goethes philosophische Bedeutung vor allem in dem Widerhall liegt, den seine Werke in fremdem Ideengut fanden, hat Friedrich Schiller (1759-1805) eigene Beiträge auf verschiedenen Gebieten der Philosophie geleistet.

Schillers Leben ist eng mit Thüringen verbunden. Um der Verfolgung durch die Obrigkeit zu entgehen, verließ er 1782 seine württembergische Heimat und fand Zuflucht im südthüringischen Bauerbach. Nach Aufenthalten in Mannheim, Leipzig und Dresden kam er 1787 nach Weimar. Von 1789-1799 lebte er in Jena, danach, bis zu seinem Tod, wieder in Weimar.

Schiller verfasste eine Reihe philosophisch bedeutender Schriften. Aber auch in seiner Dichtung finden sich unzählige Passagen mit philosophischem Tiefgang, wie die nachstehenden Beispiele zeigen.

Schiller war stark von der Philosophie Immanuel Kants beeindruckt und gehörte zu deren einflussreichsten Verbreitern und Kritikern. Seine erste öffentliche Auseinandersetzung mit Kant bildet der Essay “Über Anmut und Würde”, erschienen 1793 in der Zeitschrift “Neue Thalia”.
Bemerkenswerte Einblicke in Schillers philosophische und politische Ansichten bieten die Briefe, die er zwischen 1793 und 1796 an den Herzog von Augustenburg schrieb. Sie waren die Grundlage der später erschienenen Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1795).

Das Reich der Vernunft ist ein Reich der Freiheit, und keine Knechtschaft ist schimpflicher, als die man auf diesem heiligen Boden erduldet.

In Jena erhielt Schiller 1789 einen Lehrstuhl für Geschichte, obwohl er eigentlich Philosophieprofessor war. Seine Antrittsvorlesung, die begeistert aufgenommen wurde, war denn auch von philosophischen Betrachtungen durchzogen.

Beklagenswerter Mensch, der mit dem edelsten aller Werkzeuge, mit Wissenschaft und Kunst, nichts höheres will und ausrichtet, als der Tagelöhner mit dem schlechtesten! der im Reiche der vollkommensten Freiheit eine Sklavenseele mit sich herum trägt!

1795 erschien Schillers letzte größere philosophische Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“. Am 17. Dezember 1795 teilt er Goethe in einem Brief mit „daß ich für eine Weile die philosophische Bude schließe. Das Herz schmachtet nach einem betastlichen Object.“

Ausführlicheres zu Friedrich Schillers philosophischer Bedeutung in unserem Exponat „Dichtende Philosophen oder philosophierende Dichter?

Selten in der Geschichte waren Literatur und Philosophie so eng verbunden wie im Weimar der Aufklärung und der sich anschließenden klassischen Epoche. In dieser Zeit entstand ein einzigartiger geistiger Austausch zwischen Dichtern, Denkern und Wissenschaftlern, der die kulturelle Identität Deutschlands nachhaltig prägte. Die Weimarer Klassik war nicht nur eine literarische Blütezeit, sondern auch ein Experimentierfeld für moralische, ästhetische und erkenntnistheoretische Fragen, die das aufklärerische Denken in eine neue, humanistische Dimension führten.

In diesem Ausstellungsteil stellen wir das „Viergestirn“ der Weimarer Klassik vor. Klicke dazu auf die Sterne.

Am Rande informieren wir über die der Klassik vorausgehende Periode des
Sturm und Drang sowie über den philosophischen Außenseiter
Johann Karl Wezel.

Im Zentrum dieses intellektuellen Aufbruchs standen Gestalten wie Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Johann Gottfried Herder und Christoph Martin Wieland. Ihre Werke waren nicht nur künstlerische Schöpfungen, sondern auch Träger philosophischer Ideen.
Schillers Schriften über die „ästhetische Erziehung des Menschen“ etwa suchten die Versöhnung von Sinnlichkeit und Vernunft – ein Thema, das auch Kant und die Aufklärung bewegte. Goethe wiederum verband in seinem Schaffen naturwissenschaftliche Beobachtung mit dichterischer Intuition, wodurch er eine Einheit von Kunst und Erkenntnis anstrebte, die das mechanistische Weltbild der reinen Vernunft überwand.
Weimar wurde so zu einem geistigen Zentrum, in dem das Ideal des harmonischen, gebildeten Menschen zur Leitfigur wurde. Literatur war hier nicht bloß Unterhaltung, sondern Ausdruck einer ethischen und philosophischen Haltung, die den Menschen als freies, vernunftbegabtes Wesen in den Mittelpunkt stellte. Die Auseinandersetzung mit antiker Kunst, die Hinwendung zur Natur und die Suche nach universaler Wahrheit schufen ein kulturelles Klima, das bis heute als Maßstab für humanistische Bildung gilt.
Die Verbindung von Literatur und Philosophie im Weimar der Klassik war damit mehr als eine historische Episode – sie war ein Versuch, Denken und Dichten, Geist und Leben zu vereinen. In dieser Einheit liegt ihre zeitlose Bedeutung: Sie zeigt, dass wahre Kultur dort entsteht, wo Erkenntnis und Schönheit gemeinsam nach Wahrheit streben.

Der Weimarer Klassik ging die Epoche des Sturm und Drang voraus. Sie markiert eine leidenschaftliche und revolutionäre Phase der deutschen Literaturgeschichte. Als Gegenbewegung zur rationalen und normgebundenen Aufklärung stellten die jungen Dichter (die „Stürmer und Dränger“) die ungezügelte Emotion in den Mittelpunkt ihres Schaffens.

Die literarischen Werke sind Ausdruck dieser inneren Revolte. Sie kritisieren vehement die feudalen Strukturen und die überkommenen Moralvorstellungen des Bürgertums. Die Sprache bricht mit den Konventionen, sie ist emotional aufgeladen, dynamisch und verwendet häufig Ausrufe, Halbsätze und Kraftausdrücke, um die innere Zerrissenheit authentisch darzustellen. Die bevorzugte Gattung war das Drama, in dem der Konflikt des leidenschaftlichen Helden mit der gesellschaftlichen Ordnung meist tragisch endete.

Hauptvertreter dieser kurzen, aber intensiven Epoche sind Johann Wolfgang von Goethe (Die Leiden des jungen Werther) und Friedrich Schiller (Die Räuber). Der Sturm und Drang ebnete den Weg für die spätere Klassik und Romantik, indem er dem Subjekt und seiner Gefühlswelt literarisch Geltung verschaffte.

Die Epoche des Sturm und Drang war von Natur aus eine literarische Jugendbewegung, deren extreme Emotionalität und Regelablehnung ihre eigene Lebensdauer begrenzte. Die entscheidende Zäsur bildet Goethes Italienische Reise. Dort suchte er in der antiken Kunst und Architektur nach Ordnung, Maß und Harmonie, was den Beginn der Weimarer Klassik einleitete. Friedrich Schiller vollzog einen ähnlichen Wandel; nach seinen frühen, rebellischen Dramen widmete er sich zunehmend philosophischen und ästhetischen Fragen, die auf moralische Läuterung und Ausgleich abzielten.
Eine beschleunigende Rolle beim Übergang zur Klassik spielte die Französische Revolution, indem sie die deutschen Intellektuellen mit der brutalen Realität politischer Umwälzungen konfrontierte. Zunächst schien die Revolution die Ideen des Sturm und Drang zu bestätigen; die Ablehnung der absolutistischen Herrschaft und der Ruf nach Freiheit entsprachen dem antiautoritären Geist der Stürmer und Dränger. Die anschließende Radikalisierung und der Terror der Revolution wirkte jedoch tief abschreckend auf die meisten deutschen Denker.
Als Reaktion auf das politische Chaos wandten sich die Klassiker der ästhetischen Erziehung zu. Anstatt die Gesellschaft durch direkte politische Revolte zu verändern, sahen Goethe und Schiller in der Kunst und der Hinwendung zum Wahren und Schönen das Mittel, um den Menschen moralisch zu vervollkommnen. Erst der sittlich gereifte Mensch, so die Überzeugung, könne eine gerechte Gesellschaft aufbauen.

Die Vorgeschichte:
Sturm und Drang

„Ein sonderbarer Meteor an unserem literarischen Lufthimmel“, schrieb Christoph Martin Wieland. Den er damit meinte, war Johann Karl Wezel, geboren 1747 in Sondershausen.

Der Verfasser von Gedichten, Romanen und Satiren „ist auch ein bedeutender philosophischer Autor, der fest in der Aufklärung verwurzelt ist, aber auch an ihre Grenzen stößt. Und zwar schärfer und folgenreicher als jeder andere Autor des 18. Jh.s. Sein Roman Robinson Krusoe (1779) endet in einem Weltuntergangsbild, das in der Literatur der Zeit nicht seinesgleichen hat.

Wezel-Denkmal in Sondershausen
(Foto: HieRo GlyPhe – GNU Free Documentation License)

Vermutlich hat sich Wezel schon in seiner Leipziger Studienzeit ausgiebig mit Leibniz beschäftigt und die zeitgenössischen Philosophen gelesen. 1781 hebt er in einer Replik zu einer Rezension seiner Schrift Über Sprache, Wissenschaften und Geschmack der Teutschen hervor, daß ihm Leibnizens Denkgebäude längst überholt erscheint: „Damals war er mir unleidlich, und jetzt unerträglich.“ Dagegen, betont er, „zündete“ der Engländer John Locke in seinem Kopf „ein Licht an“. In sein Blickfeld traten auch die großen Franzosen: Voltaire, La Mettrie, d’Alembert und Diderot. Gerade die Elemente mechanistischen Denkens, wie sie vor allem La Mettrie in seinem Traktat L’homme machine (1748) formuliert hat, sind für ihn von grundlegender Bedeutung und Ausgangspunkt einer eigenständigen Anthropologie. In Wezels philosophischer Hauptschrift Versuch über die Kenntnis des Menschen heißt es: „Jede Wirkung setzt eine Ursache voraus, die Aufsuchung der Ursachen, die jene Wirkungen veranlassen oder hervorbringen, stehen im Mittelpunkt.“ In den menschlichen Handlungen herrscht also nach Wezel ein mechanistisches Prinzip vor. Wie für La Mettrie ist auch für Wezel der Mensch ein funktionierender Mechanismus, der von den Nerven, „dem allgemeinen Band zwischen Seele und Körper“, zusammengehalten wird. Da sich aus einer solchen Auffassung nur schwerlich gesellschaftliche Veränderungen ableiten lassen, folgt ein tiefer Skeptizismus, aus dem sich Wezels satirische und groteske Schreibhaltung ableitet, letztlich wohl auch sein Scheitern als Autor. Daß die Weimarer Klassiker mit dieser Grundhaltung wenig anzufangen wußten, erklärt Wezels längerfristige Wirkungslosigkeit und sein schließliches Verstummen.“

zitiert aus: D. Ignasiak, F. Lindner „Das philosophische Thüringen“ Jena: Quartus 1998

sonderbarer Meteor:
Johann Karl Wezel

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Kleines Land – große Denker

Bereich 4

Jena:
Brutstätte des Idealismus

Die Geschichte der Philosophie kennt nur wenige Momente von so explosiver Kreativität wie die kurze Zeitspanne zwischen 1794 und 1806 an der Universität Jena. In diesen zwölf Jahren wirkten dort drei der einflussreichsten Systemdenker der deutschen Geistesgeschichte. Ihr Schaffen machte Jena zur „Brutstätte des Deutschen Idealismus“, an der die philosophische Spätaufklärung in eine neue, epochale Systematik überführt wurde.
Erhard Weigel – Gemälde von Christian Richter (1655)

Gut hundert Jahre vor den Idealisten wirkte in Jena eine der faszinierendsten Gestalten der frühen Aufklärung: Erhard Weigel.
Geboren 1625 in Weiden (Oberpfalz), kam er 1653 nach Jena, wo er vier Jahrzehnte als Hochschullehrer tätig war. Als Mathematiker, Astronom, Pädagoge und Philosoph prägte Weigel eine ganze Generation von Studierenden.

Es war eine Zeit, in der traditionelle scholastische Denkweisen mit neuen naturwissenschaftlichen Methoden konkurrierten. In diesem Spannungsfeld entwickelte Weigel sowohl ein eigenständiges philosophisches Programm als auch neue Formen universitärer Lehre.
Philosophisch stand er einer rationalistischen Erkenntnisauffassung nahe, ohne sich vollständig der Linie von Descartes anzuschließen. Er suchte nach einer universellen Ordnung, die im Aufbau der Welt ebenso erkennbar sein sollte wie in der Struktur menschlichen Denkens. Zentral war dabei die Idee, dass mathematische Prinzipien nicht bloß Werkzeuge zur Beschreibung der Natur sind, sondern selbst fundamentale Eigenschaften der Schöpfung ausdrücken. Für Weigel war die Mathematik somit eine Art „lingua naturalis“, die den göttlichen Bauplan der Welt sichtbar mache. Aus dieser Überzeugung heraus entwickelte er eine systematisch geordnete Moralphilosophie, in der die Begriffe Ordnung, Maß und Harmonie zentrale Rollen spielen. Moralisches Handeln bedeutete für ihn, das eigene Leben in Übereinstimmung mit der rationalen Struktur der Welt zu bringen.

Weigels philosophisches Projekt war eng mit seinem pädagogischen Anspruch verknüpft. Als leidenschaftlicher Lehrer, der sich gegen rein rezeptives Lernen wandte, wollte er seine Studierenden zu aktivem, methodisch geleitetem Denken befähigen. Er entwarf verschiedene didaktische Modelle, darunter visuelle Darstellungen logischer und mathematischer Zusammenhänge, und arbeitete mit Lehrinstrumenten, die das abstrakte Denken anschaulicher machen sollten. Er entwickelte geometrische Anschauungsmittel und Geräte, mit denen sich die Prinzipien der Vermessung und der Himmelsbeobachtung demonstrieren ließen, so ein sechs Meter große, begehbarer Himmelsglobus auf dem Jenaer Schloss.

Erhard Weigel – Gemälde von Pietro della Vecchia (1649)

Die Universität Jena bot Weigel einen fruchtbaren Boden für seinen interdisziplinären Ansatz. Er unterrichtete Mathematik, Astronomie, Philosophie, Ethik, Logik und gelegentlich auch Theologie. Seine Vorlesungen erfreuten sich in ganz Europa eines hervorragenden Rufes, und zahlreiche spätere Gelehrte – darunter auch sein Schüler Gottfried Wilhelm Leibniz – wurden durch seine Denkweise beeinflusst. Weigels Ziel war es, die Kluft zwischen spekulativer Philosophie und praktischer Naturforschung zu überwinden. In einer Zeit, in der sich die moderne Wissenschaft erst zu formieren begann, betonte er die methodische Einheit aller Wissensgebiete, das Ideal einer pansophischen Universalwissenschaft.

Erhard Weigel
und die Vorgeschichte
Friedrich Hölderlin
Pastell von Franz Karl Hiemer (1792)

Friedrich Hölderlin (1770-1843) ist als einer der bedeutendsten Lyriker seiner Zeit bekannt. Sein Beitrag zum Frühidealismus ist von großer, lange Zeit unterschätzter Bedeutung. Er prägte diesen Abschnitt der Philosophie maßgeblich, nicht nur durch seine enge Verbindung zu Hegel und Schelling, mit denen er während des Studiums zusammen im Tübinger Stift wohnte, sondern vor allem durch eine eigenständige philosophische Konzeption.
Seine zentrale philosophische Position kann mit dem All-Einheits-Gedanken oder dem ästhetischen Pantheismus umschrieben werden. Dieser Gedanke drückt das Sehnen nach der Einheit von Mensch und Natur (oder Gottheit) aus. Hölderlin sah in der Zerrissenheit der modernen Welt die Hauptursache menschlichen Leidens. Die berühmte Formel aus seinem Roman „Hyperion“ fasst dies zusammen:

Eines zu sein mit allem, das ist Leben der Gottheit,
das ist der Himmel des Menschen.

„Hyperion“, Erstausgabe von 1797

Hölderlins Frühidealismus suchte nach einer ästhetischen Vermittlung zwischen dem endlichen Subjekt (dem Menschen) und dem unendlichen Objekt (der Natur/dem Sein), um die von Kant konstatierte Trennung zu überwinden. Im Gegensatz zu Fichtes radikalem Ich-Standpunkt betonte Hölderlin die Priorität des Seins und die Notwendigkeit der Anschauung des Ganzen durch die Kunst (Poesie). Der Dichter wird damit zum Priester und Seher, der die Einheit im Zeichen der Schönheit und Harmonie wieder erfahrbar macht.

Sein Werk, insbesondere die Gedichte und der Roman „Hyperion“, dienten als poetische Entwürfe für diese philosophische Forderung nach Ganzheit und Harmonie im Sinne der antiken Idealvorstellung. Damit beförderte Hölderlin die Wende des Idealismus hin zum Spekulativen.

Hölderlin
der Unterschätzte

Friedrich Schlegel verband die Theorien des Jenaer Idealismus, insbesondere die Philosophie von Fichte und Schelling, auf fundamentale Weise mit den Ideen der Romantik. Er tat dies, indem er zentrale idealistische Konzepte in die Ästhetik und die Theorie der Dichtung der Frühromantik übertrug.

Die Idealisten strebten danach, das Absolute (das Unbedingte, das Ganze der Wirklichkeit) gedanklich zu erfassen. Schlegel übertrug dieses metaphysische Streben auf die Kunst. Die romantische Poesie wird zur „progressiven Universalpoesie“, deren Bestimmung es ist, sich ewig zu vollenden, aber nie abgeschlossen zu sein. Sie ist ein „unendlicher Werdensprozess“, der das Endliche zum Unendlichen erheben soll.

Nur durch Beziehung aufs Unendliche entsteht Gehalt und Nutzen;
was sich nicht darauf bezieht, ist schlechthin leer und unnütz.
„Ideen“ (1800)

Fichtes Philosophie des transzendentalen Ichs sah das Ich als den Ursprung aller Realität und allen Wissens. Die Romantik, insbesondere bei Schlegel, radikalisierte dies zum ästhetischen Subjektivismus. Das künstlerische Subjekt (der Dichter) wird zum Schöpfer, der durch seine Fantasie und Einbildungskraft die Wirklichkeit im Sinne des Ideals transformiert. Die Kunst wird ein Projektionsraum innerer Empfindungen.

Schelling sah in der Natur und dem Geist zwei Seiten des Absoluten, die in der Kunst zur Anschauung kommen. Schlegel forderte die Vereinigung aller Bereiche in der Poesie, insbesondere die Verbindung von Poesie, Philosophie und Rhetorik, aber auch die Zusammenführung aller getrennten literarischen Gattungen. Diese Tendenz zur Synthese und Universalität ist ein direkter Widerhall der idealistischen Suche nach dem Ganzen.

Schlegel prägte auch den Begriff der Symphilosophie (Zusammenphilosophieren), der die Notwendigkeit des gemeinschaftlichen philosophischen und literarischen Austauschs betonte. Die enge, diskussionsfreudige Gemeinschaft der Jenaer Frühromantiker um die Gebrüder Schlegel, Novalis und Schelling in Jena war der praktische Ausdruck dieser Verknüpfung von Philosophie und Dichtung im gemeinsamen Schaffen.

Dass nicht alle von dieser neuen Strömung begeistert waren, zeigt der folgende Brief von Friedrich Schiller.

Quelle: Romantikerhaus Jena
Friedrich Schlegel
die Idee der Romantik
Fichte-Büste von Christian Friedrich Tieck

Die Initialzündung für diese goldene Ära in Jena war die unerwartete Berufung Johann Gottlieb Fichtes im Mai 1794 auf den Lehrstuhl für Philosophie, der zuvor von dem renommierten Kant-Interpreten Karl Leonhard Reinhold besetzt war. Fichtes Antritt war nicht nur ein akademisches Ereignis, sondern eine intellektuelle Revolution.  

Fichte etablierte sich rasch als Speerspitze der neuen philosophischen Strömung. Anders als Kant betonte er nicht nur die Grenzen der Vernunft, sondern hob die aktive, schöpferische Kraft des Subjekts hervor. Im Zentrum seiner Jenaer Tätigkeit stand die Ausarbeitung und Verbreitung seiner fundamentalen erkenntnis­theoretischen Schrift, der „Wissenschaftslehre“. In diesem Werk stellte Fichte das Primat des Ich auf und begründete damit das systematische Programm des Deutschen Idealismus.

Durch seine radikalen Positionen und die Betonung der schöpferischen Freiheit des Subjekts zog Fichte einen Kreis junger, engagierter Studenten und Intellektueller an, darunter Friedrich Hölderlin, der 1795 in Jena studierte. Fichtes radikaler Idealismus wurde schnell zum Synonym für die intellektuelle Liberalität Jenas, geriet jedoch in Konflikt mit den konservativen politischen Mächten. Seine Amtszeit fand 1799 ein abruptes Ende im Atheismusstreit. Ausgelöst durch seine Abhandlung „Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung“ von 1798 sah er sich dem Vorwurf des Atheismus ausgesetzt. Fichtes Sturz markierte das Ende der progressivsten Phase der Jenaer Universität und die Grenzen der akademischen Freiheit in der Ära der Spätaufklärung.  
Fichte musste Jena verlassen, aber er hatte das Feld für die nachfolgenden Systemdenker bereitet, die den Idealismus zu seinem Abschluss führen sollten.

Ein philosophisches Porträt von Johann Gottlieb Fichte findest du in unserer Ruhmeshalle.

Gemälde von Joseph Karl Stieler (um 1835)

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (ca. 1798–1803) lehrte zeitgleich mit Fichte und später mit Hegel. Als Mitbegründer der Naturphilosophie und als zentrale Figur der Jenaer Romantik spielte Schelling eine entscheidende Rolle. Seine Zeit in Jena war von Kreativität und von der engen Zusammenarbeit mit seinen Kollegen geprägt, die den Idealismus mit den aufkommenden ästhetischen und literarischen Strömungen verknüpften.

Schelling traf 1798, im Alter von nur 23 Jahren, als außerordentlicher Professor der Philosophie in Jena ein, berufen auf Betreiben von Goethe. Er entfaltete eine glanzvolle Wirksamkeit und etablierte sich rasch als führender Kopf des Deutschen Idealismus nach dem Weggang Fichtes.

Schellings Jenaer Zeit ist die Phase der Transzendental- und Naturphilosophie. Er versuchte, die Natur und den Geist als zwei Pole des Absoluten zu begreifen und deren Identität aufzuzeigen. Die Natur wird dabei als ein „immer werdendes Produkt“ gesehen – ein Prozess der Selbstwerdung Gottes vom Unvollkommeneren (Natur) zum Vollkommeneren (Geist). Diese dynamische Sichtweise beeinflusste stark die Frühromantiker um Friedrich Schlegel, zu deren Kreis er gehörte.

Schellings Philosophie gilt als Verbindungsglied zwischen der Philosophie Kants, Fichtes und Hegels. Gemeinsam mit Hegel gab er das „Kritische Journal der Philosophie“ heraus.

Schelling verließ Jena 1803, als er einen Ruf an die Universität Würzburg annahm. Sein Weggang markierte das Ende der kurzen, intensiven Blütezeit des Jenaer Idealismus.

Gemälde von Jakob Schlesinger (1831)

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1801–1806) kam 1801 nach Jena, um sich als Privatdozent zu habilitieren. Seine Jenaer Jahre sind durch eine Reihe von systematischen Entwürfen gekennzeichnet, in denen er sein philosophisches System aufbaut.

Hegel arbeitete eng mit seinem ehemaligen Studienfreund Schelling zusammen. Sie gaben gemeinsam das „Kritische Journal der Philosophie“ (1802–1803) heraus, das als Organ zur Abgrenzung vom älteren Idealisten Fichte und zur Etablierung ihrer eigenen Positionen diente. In dieser Zeit entwickelte Hegel seine frühen Systemkonzepte der Logik, Naturphilosophie und der Philosophie des Geistes.

Die Fertigstellung seines Hauptwerkes „Phänomenologie des Geistes“ fiel exakt mit einem weltgeschichtlichen Wendepunkt zusammen: Hegel beendete diese Arbeit im Oktober 1806 inmitten des Donners der Kanonen während der Schlacht von Jena und Auerstedt. Diese zufällige Koinzidenz – der Abschluss des philosophischen Systems in einem Moment des Zusammenbruchs der alten politischen Ordnung – wurde von Hegel selbst als Manifestation des Weltgeistes interpretiert und verdeutlichte die enge Verbindung des Jenaer Idealismus mit dem revolutionären Zeitgeist. Allerdings wurde nach dem Sieg Napoleons die Universität geschlossen, was Hegel den weiteren Verbleib in Jena unmöglich machte.

Ein philosophisches Porträt von Georg Wilhelm Friedrich Hegel findest du in unserer Ruhmeshalle.